Das Mitleid mit den Toten lässt mich unberührt. Das hat wohl zu tun mit dem Begriff Mitleid, der ganz dem Leben und dem von ihm geschaffenen Leiden gilt.
Für mich kann diese Empathie nur mit Leidenden, also Lebenden funktionieren. Man muss wissen, was der andere empfindet, um ihn bemitleiden zu können. Mitleid ist prinzipiell nur zwischen Wesen möglich, die beide am Leben teilhaben. Nur so kann man im Vergleich das größere oder geringere Leid empfinden.
Vielleicht können wir noch Mitleid mit dem in unseren Köpfen bestehenden Bild eines Verstorbenen haben oder mit den überlebenden Verwandten, die allerdings keine Toten sind. Mit dem nicht mehr ausgefüllten Umriss, den er hinterlassen hat, aber kann man kein Mitleid haben. „Die Klage um das nicht gelebte Leben, um all das Schöne, das nun nicht erlebt wird“ bezieht sich auf den Klagenden, nicht auf den Beklagten, denn dieser kann nicht leiden, wodurch Mitleid sich erübrigt.
Wer Mitleid mit einem Toten hat, stellt sich das Jenseits wohl sehr negativ vor. Denn wenn er im Himmel ist, gibt es keinen Grund ihn zu bemitleiden, löst sein Ich sich auf nach dem Tode, leidet er nicht. Somit bliebe nur noch die sehr negative Sicht von eventuellen Höllenqualen.
Mitleid hat auch für den lebenden Empfänger die unerfreuliche Nebenwirkung, dass es seine Würde verletzt. Er muss dankbar sein, dass man ihm aus einer schwierigen Situation heraushilft, in die er bei größerer Sorgfalt nicht geraten wäre. Irgendwie schwebt die Vorstellung im Raum, dass er selber verantwortlich ist für seine missliche Lage. Wie konnte er bloß so hohe Häuser beziehen in einem Gebiet, das vor Erdbeben nicht sicher ist?
Mitleid ist ein Affekt, der von manchen Denkern nicht besonders geschätzt wird (Nietzsche) anderen aber als Grundlage des moralischen Verhaltens gilt (Schopenhauer).
Allerdings erübrigt sich nicht die Frage von G.B. Shaw: Wieviel besser wird es um die Welt bestellt sein, wenn Wissen alles und Mitleid nichts ist?