Das heimische Veterinärwesen ist dabei, sich neue Regeln zu geben. Der medizinische Fortschritt und die Konkurrenz aus dem Ausland verlangen es

Der Doktor und das liebe Vieh

d'Lëtzebuerger Land vom 06.06.2014

Der Doktor und das liebe Vieh lautete die deutsche Übersetzung der Fernsehserie All Creatures Great and Small, die die BBC in den Siebziger- und Achtzigerjahren produziert hatte. Man sah darin den Tierarzt James Herriot entweder in seinem kleinen Auto durch eine beschauliche Landschaft im englischen Nord Yorkshire der Vierzigerjahre fahren und nach Kühen und Pferden sehen, oder in seiner Praxis in dem fiktiven Städtchen Darrowby Haustierhalter empfangen. Sein treuester Patient war ein Pekinese einer reichen und vornehmen Besitzerin. Die Serie war derart erfolgreich, dass die BBC noch in den Neunzigerjahren „Weinachts-Specials“ über den Landtierarzt herausbrachte und die zum Dreh benutzten Praxisräume in Thirsk in den Yorkshire Dales als alles vorbei war zu einem Museum ausgebaut wurden, das The World of James Herriot heißt.

Die Idee vom Tierarzt, der alles kann, wird in Luxemburg noch ziemlich hochgehalten. So kommt es, dass wer als Journalist über Veterinäre und ihre Arbeit schreiben will, gebeten wird, keine Namen zu nennen. Dem Veterinär ist die indépendance professionnelle garantiert; im Gegenzug jedoch ist jede öffentliche Äußerung, die als Werbung verstanden werden könnte, untersagt. So steht es im Deontologiekodex der Veterinäre, und der Collège vétérinaire wache darüber ganz streng, sagt ein Tierarzt, der hier Dr. B. genannt werden soll.

Dr. B. erzählt, er sei „Pferdespezialist“, behandle aber auch Rinder und wenn nötig andere große Tiere. Vor ein paar Tagen hat er einen Esel kastriert. Das zeigt schon, dass das Bild vom ganz alleine praktizierenden Tierarzt, dem Freund und Helfer der Landwirte wie der Kleintierbesitzer, nicht mehr stimmen kann. Die Tierarzt-Welt von heute wird immer spezialisierter. Es gibt Großtier- und Kleintierveterinäre, und unter Ersteren wiederum ausgesprochene Fachleute für Pferde oder Schweine, während sich bei Letzteren die Profession allmählich aufteilt in „Generalisten“, in Fachärzte für bestimmte Organe oder in Kleintierärzte, die vor allem operieren. Und nicht alle Hunde- und Katzentierärzte kennen sich außerdem gleich gut mit jedem der so genannten nouveaux animaux de compagnie aus, unter die jedes Kleinvieh fällt, das kleiner ist als eine Katze.

Zu seinen Patienten fährt Dr. B auch nicht mit einem kleinen Auto und einer Arzttasche im Kofferraum, sondern mit einem Van, der bis unters Dach vollgepackt ist: mit Schränken für Arztbestecke, einem Kühlschrank mit Medikamenten darin, einem mobilen digitalen Röntgengerät und so fort. „Das Auto ist meine wichtigste Ausrüstung“, sagt der Tierarzt. „Geht es kaputt, habe ich ein Riesenproblem. Nicht mal ein Ersatzfahrzeug aus der Werkstatt nützt mir viel, ich müsste dann alles umräumen.“ Alle drei, vier Jahre aber mache ein „Großtierveterinär“ ein Auto „kaputt“; wegen der vielen gefahrenen Kilometer und der rauen Einsatzbedingungen. „Wann immer wir gerufen werden, müssen wir raus.“ Bei ihm sei „immer Arbeitszeit“. In Urlaub fährt Dr. B nur einmal im Jahr für eine Woche. Und sagt: „Ein bisschen verrückt muss man schon sein, um diesen Beruf auszuüben.“ Er ist auch nicht ganz ungefährlich. Ein Pferd zum Beispiel könne selbst unter Vollnarkose ausschlagen. Erst vor ein paar Wochen bekam Dr. B wieder mal einen Huftritt ab.

Szenenwechsel zu Dr. A., der Kleintierveterinär ist. Mit zwei Kollegen betreibt er eine Kleintierklinik; weitere vier Tierärzte sind ihr angeschlossen. An solchen Kliniken, in denen Tiere auch hospitalisiert werden, gibt es derzeit vier im Lande. Und offenbar können sie sich über Zuspruch nicht beklagen, denn Dr. A und seine beiden Partner würden ihren Betrieb gerne vergrößern, sobald sich ein geeignetes Grundstück findet. „Als ich in den Achtzigerjahren zu praktizieren begann“, erinnert sich Dr. A., „kamen viele Veterinäre neu hinzu.“ Da hätten die älteren Kollegen sich Sorgen gemacht, ob jeder ein ausreichend großes Stück vom Kuchen abbekäme. Die Sorge sei unbegründet gewesen: „Es wird immer mehr gemacht an den Tieren. Die Leute erwarten immer mehr und viele sind bereit, eine Menge Geld auszugeben.“

Das ist eine interessante Feststellung. Denn offenbar betreuen Großtier- und Kleintierveterinäre nicht nur verschieden große Tiere, sondern agieren auf zwei Märkten, die sich sehr verschieden voneinander entwickelt haben. Großtierarzt Dr. B. berichtet, sowohl die Landwirte mit Milchkühen und Zuchtbullen im Stall als auch die Pferdebesitzer würden immer genauer aufs Geld schauen. „Noch vor Jahren hat ein Bauer dem Tierarzt gesagt: Mach was du willst. Heute dagegen werden Diagnosen gegoogelt, auf Youtube Filme über Behandlungen angeschaut, und dann werde ich gefragt, weshalb ich so behandle und nicht anders.“ Der Tierarzt werde auch nicht immer gerufen. Sei ein Kalb erkältet, versuche der Bauer es nicht selten erst einmal selber zu behandeln. Das sei kein Wunder, wenn ein Tierarzt für eine Visite „vielleicht 36 Euro berechnet“, Medikamente extra kosten, ein Kalb aber nur 70 Euro wert sei.

Sich mit seinen Kunden auseinandersetzen und sie beraten muss auch Kleintierarzt Dr. A. – allerdings nicht selten, um ihnen übertriebene Vorstellungen auszureden. „Vielen fällt es schwer zu begreifen, dass es ganz normal ist einen Hund oder eine Katze nach fünf bis zehn Jahren zu verlieren.“ Vor allem Kleintierbesitzer ohne Kinder würden ihr Tier mitunter betrachten wie ein Kind und „das absolute Maximum an Behandlung“ verlangen. Koste eine Konsultation 34 Euro, würden bei einer Operation einige tausend Euro fällig und für Analysen vorher mitunter hunderte.

Der medizinische Fortschritt gibt auch in Luxemburg viel her. In der im vergangenen Sommer in Bettemburg eröffneten größten Kleintierklinik steht nun auch der erste CT-Scanner zur Verfügung. Und: Die Betreiber der Klinik sagen, sie sei ein knappes Jahr nach ihrer Eröffnung schon fast zu klein für die bis zu 90 Tierpatienten, die sie Tag für Tag passieren. Ganz spezielle Fälle werden an „Zentren“ im Ausland überwiesen. In Lille und Frankfurt zum Beispiel gibt es ein Krebszentrum für Hunde und Katzen, in Paris eine Universitäts-Tierklinik, die jeden noch so seltenen Fall an einem Tier übernimmt. Angesichts eines solchen Angebots müsse ein Kleintierveterinär heutzutage „zuerst mit den Besitzern arbeiten und dann am kranken Tier“, sagt Dr. A. Tierarzt werden zu wollen, „weil man es toll findet, etwas mit Tieren zu machen“, sei der falsche Ansatz. „Wen man den Besitzern nicht sagen kann, was Sache ist, und nicht auch einmal kategorisch zu werden vermag, wird das nichts mit dem Beruf.“

Weil die Profession des Großtierveterinärs anstrengend ist, das Kleintierwesen sich dagegen in eine Richtung entwickelt, wie man sie in der Humanmedizin kennt, sei vor ein paar Jahren noch gefürchtet worden, es gebe im Lande womöglich schon bald nicht mehr genug Ärzte für Rinder, Schweine, Pferde und so fort, erinnert sich Josiane Gaspard. Mittlerweile habe die Lage sich aber wieder entspannt. Gaspard ist Präsidentin des Collège vétérinaire, des Selbstkontrollorgans der Tierärzte. 178 aktive freiberufliche Veterinäre gebe es derzeit in Luxemburg. Die große Mehrheit der Tierärzte aber sind Kleintierveterinäre. Ihr Verband, die Association luxembourgeoise des médecins-vétérinaires pour animaux des compagnie, zählte vergangenes Jahr 126 Mitglieder.

Im Moment ist das Veterinärkollegium dabei, neue Regeln für die Branche zu entwerfen. Noch funktioniert sie weitgehend selbstverwaltet und bisweilen ziemlich informell. Nicht einmal eine allgemeinverbindliche Preisliste gibt es: Die einzige offizielle wurde am 29. Oktober 1918 erlassen. Weil sie nie außer Kraft gesetzt wurde, könnten streng genommen noch heute „für jeden Besuch eines Tierarztes bei einem kranken Tiere“, wie im Abschnitt „Besondere Bestimmungen“ festgehalten, nur 2,50 bis fünf Franken berechnet werden. Natürlich macht das niemand. „Im Deontologiekodex steht, der Veterinär stellt seine Rechnungen ‚avec tact et mésure‘ aus“, sagt Josiane Gaspard. Gewisse Richtlinien hat der Collège erlassen. Die scheinen auch weitgehend befolgt zu werden, „denn in unserem kleinen Land spricht es sich innerhalb von ein paar Tagen herum, wenn einer aus der Reihe tanzt“, meint Dr. B.

Doch Selbstverwaltung reicht nicht mehr aus, wenn die Konkurrenz aus dem Ausland sich bemerkbar macht. Im Unterschied zur Humanmedizin gelten für die Tiermedizin die Freiheiten der EU-Dienstleistungsrichtlinie. Dass Kleintierbesitzer für eine „zweite Meinung“ schon mal ins grenznahe Ausland fahren, soll vorkommen. Vor allem aber kann jeder ausländische Großtierarzt, selbst wenn er das nur gelegentlich tut, sein Auto auch zu Luxemburger Ställen lenken, sofern er sich als Dienstleister beim Gesundheitsministerium angemeldet hat. Ob alle das tun, ist jedoch die Frage. Pferdespezialist Dr. B. etwa weiß, dass deutsche „Pferdezahnärzte“ in Luxemburg ihre Dienste anbieten. „Allerdings sind das keine Veterinäre. Einem Pferd eine Vollnarkose geben, wie das üblich ist für eine Zahnbehandlung, dürfen sie eigentlich nicht.“ Was aber tun, wenn man meint, ein nicht zugelassener Veterinär sei in Luxemburg zugange? Im Grunde müsste dann das Gesundheitsministerium verständigt werden, um eine Kontrolle zu veranlassen. Dr. B. aber weiß: „Macht man das, wirft der Bauer einen wahrscheinlich von seinem Hof und man kann ihn als Kunden vergessen.“

Neue Regeln müssten deshalb das Luxemburger Veterinär-Angebot nicht zuletzt auch „sichtbarer“ gegenüber der Konkurrenz machen. Das ist durchaus delikat, denn damit würden die heimischen Tierärzte auch untereinander sichtbarer. Im Frühjahr hat der Collège vétérinaire den Großtierärzten erlaubt, auf ihren Autos die Berufsbezeichnung mit Telefonnummer und E-Mailadresse anzugeben. Aber nicht zu groß.

Ein nächster Schritt könnte womöglich sein, die Veterinäre mit ihren Spezialisierungen bekannt zu machen, sagt die Kollegiumspräsidentin, die einräumt, sie wisse nicht genau, wo Tierbesitzer sich momentan darüber informieren, welcher Veterinär für ihr Tier am geeignetsten sein könnte: „Wahrscheinlich über die Notrufnummer 112.“ Zu veröffentlichen, wer was besonders gut kann, wäre allerdings ein Eingriff in die liberale Veterinärmedizin. Publik zu machen, welche der vier Kleintierkliniken was anbietet, auch. Berufsintern wurde sogar schon diskutiert, unter den Tierkliniken aufzuteilen, wer was macht. Aber das war nicht konsensfähig. Spezialisierung hin, medizinischer Fortschritt her: Die meisten Tierärzte fühlen sich doch gern wie James Herriot, der nicht nur ein Alleskönner, sondern letzten Endes ebenfalls Geschäftsmann war.

Peter Feist
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