Noch dieses Jahr soll ein Fonds zur Entschädigung von Patientenschäden geschaffen werden, hat der Premier gesagt. So schnell wird es aber nicht gehen

Fährnisse der Medizin

d'Lëtzebuerger Land vom 25.04.2014

Patienten, die meinen, sie hätten in einem Spital, einer Arztpraxis oder bei sonst einem Gesundheitsdienstleister einen Schaden davongetragen, können sich an den Fonds des accidents médicaux wenden. Mitarbeiter des Fonds beraten sie, und falls die Pa-tientenbeschwerde berechtigt zu sein scheint, organisiert der Fonds entweder eine gütliche Einigung mit dem Dienstleister oder strengt eine Expertise an. Sieht es danach so aus, als habe der Arzt, das Krankenhaus oder welcher Dienstleister auch immer einen Behandlungsfehler begangen, hilft der Fonds mit einer Mediation, aber auch beim Einreichen einer Zivilklage. Vor allem jedoch entschädigt er solche Patienten, bei deren Behandlung wahrscheinlich ein Unfall geschah, den ein Gericht kaum auf einen Fehler zurückführen würde. Ein aléa thérapeutique, wie das im Juristenjargon heißt. Der so praktische und patientenfreundliche Beratungs- und Entschädigungsfonds besteht seit September 2012 – in Belgien.

Aber Luxemburg soll nachziehen. Ganz schnell sogar: Noch in diesem Jahr werde ein Fonds zur Entschädigung des aléa thérapeutique geschaffen, kündigte Premier Xavier Bettel (DP) am 2. April in seiner Erklärung zur Lage der Nation an. Im Koalitionsabkommen ist der Fonds auch erwähnt. Doch Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) ist vorsichtiger als der Premier, was das Timing betrifft. Dieses Jahr will sie ein avant-projet ausarbeiten lassen und mit allen Beteiligten diskutieren. Das Vorhaben sei ein „komplex“, erklärt sie dem Land. Dass daraus im Laufe des nächsten Jahres ein Gesetzentwurf wird, hält die Ministerin aber für „realistisch“.

Man wird sehen. In Belgien waren drei legislative Anläufe nötig, ehe das Gesetz über den Fonds des accidents médicaux in Kraft trat, und als es am 2. April 2010 so weit war, vergingen noch einmal zweieinhalb Jahre, ehe alle Einzelheiten dazu geklärt waren und der Fonds tätig werden konnte. Im Juli 2013 veröffentlichte er seinen ersten Jahresbericht, und darin steht, dass die Aufbauarbeit zumindest bis zum Frühjahr vergangenen Jahres noch nicht ganz abgeschlossen war. Ganz egal kann das dem Luxemburger Gesundheitsministe-rium nicht sein: An dem belgischen Modell will man sich orientieren.

Lydia Mutsch räumt ein, dass „viele Fragen noch geklärt werden müssen“. Unbekannt ist zum Beispiel, wie viel hierzulande überhaupt an Entschädigungen an Patienten bezahlt wird; sei es nach einer gütlichen Einigung mit den Versicherern, sei es nach einem Zivilprozess. Nach welchen Prozeduren ein solcher Fonds funktionieren sollte, bleibt natürlich ebenfalls noch zu entscheiden – wie auch die spannende Frage, wer ihn speisen soll. Den belgischen Fonds finanziert die öffentliche Kranken- und Invalidenversicherung. In Frankreich, wo mit dem Office national d’indemnisation des accidents médicaux (Oniam) schon seit 2002 eine ähnliche Einrichtung existiert, sind in die öffentlichen Krankenkassen und der Staat fürs Budget zuständig.

Klar, dass in Luxemburg, wo in Ministerien und Verwaltungen, aber auch bei der Gesundheitskasse CNS derzeit jeder Cent zweimal umgedreht wird, ehe man ihn ausgibt, das Thema „Speisung“ auch ein sehr politisches werden wird. Daran liegt es wohl auch, dass Claude Schummer, der Generalsekretär des Ärzteverbands AMMD, gegenüber dem Land drei Mal betont, man müsse „unbedingt verhindern, dass der Fonds ein Fass ohne Boden wird“. Zu viel entschädigen soll er nicht.

Aber eigentlich ist die AMMD die Hauptnachfragerin für den Fonds. Und dafür, dass ins Zivilrecht der neue Begriff der „responsabilité sans faute“ Einzug hält, was das Gesundheitswesen betrifft, womit der Umgang mit dem aléa thérapeutique gemeint ist: Ein Arzt könnte dann für ein unerwünschtes Behandlungsergebnis zwar verantwortlich, aber nicht daran Schuld sein. Als die AMMD vor sieben Jahren dafür öffentlich zu kämpfen begann, gab sie unumwunden zu, man hoffe nicht nur, den Arzt ein wenig aus der ersten Reihe bei komplexen und potenziell teuren Pa-tientenklagen zu nehmen, sondern auch, dass die Prämien für die Berufshaftpflicht sinken würden.

Aber damals ließ der Ärzteverband sich noch so verstehen, als sollte ein Fonds sehr viel „öffentlich“ entschädigen und eine „soziale“ Alternative zum Gang vors Zivilgericht sein, für die in jedem Fall eine 1 500 Euro teure Vorab-Expertise zu bezahlen wäre, von Anwaltskosten für den Patienten gar nicht zu reden. Auf einer Pressekonferenz im November 2007 führte die AMMD die skandinavischen Länder als Beispiel an, wo eine Entschädigungen bei aléas thérapeutiques seit Jahrzehnten Bestandteil des staatlich organisierten Gesundheitswesens sind und zwischen 35 und 45 Prozent aller Patientenklagen abdecken. Heute findet der AMMD-Generalsekretär eher den französischen Ansatz nachahmenswert: Die Oniam zahlt nur, wenn eine Kommission nicht nur einen accident médical feststellt, sondern auch eine Dauerinvalidität von mindestens 25 Prozent bei dem betroffenen Patienten nach der Behandlung. Wer einen weniger großen Schaden erlitten hat, dem bleibt der Mediationsversuch mit Unterstützung durch die Oniam. Oder halt doch der Gang vor Gericht. Eine soziale Alternative dazu ist der Oniam-Fonds nicht. Sondern eher ein Instrument, um mit Klagen umzugehen, gegenüber denen ein Gericht nicht recht wüsste, wie es entscheiden soll, gäbe es einen solchen Fonds nicht. Und: ein Instrument für besonders schwere Fälle.

So scheint es auch in Luxemburg gedacht zu sein. Ein besonderes Geschenk an die liberalen Ärzte, angekündigt vom liberalen Premier ungeachtet aller Alarmrufe über die Staatsverschuldung, wäre der Fonds aber nicht. Längst tritt nicht nur die AMMD dafür ein. Wenngleich sie es war, die im Wahlkampf 2013 massiv dafür warb, so dass alle großen Parteien sowie die ADR in ihren Programmen den Fonds einzuführen versprachen.

Seine Einrichtung wäre aber auch den Krankenhäusern willkommen, und ebenso der Patientevertriedung. Die Asbl sieht sogar akuten Handlungsbedarf: Im Januar vergangenen Jahres fällte der Kassationshof ein epochales Urteil. Zieht ein Patient sich in einem Krankenhaus eine Infektion zu, hafte das Spital dafür. Es sei denn, es weist nach, dass der Betroffene mit dem Keim schon angesteckt war, ehe er stationär aufgenommen wurde. Seitdem besteht für jedes Krankenhaus eine obligation de résultat. Und man wisse, sagt Steve Ehrmann von der Patientevertriedung, von einer Versicherungsgesellschaft, die Patientenschäden wegen der so genannten nosokomialen Infektionen in dem bei ihr versicherten Spital nicht mehr übernimmt: Für eine obligation de résultat gelte der Haftpflichtvertrag nicht. Da könne ein Patient nur noch vor Gericht ziehen.

Zum Glück kam es seitdem zu keiner Klageflut wegen solcher Infektionen. Laut Gesundheitsministe-rium sind derzeit „drei bis vier“ Fälle anhängig, aber nicht unbedingt vor Gericht. Doch dass ein Entschädigungsfonds, falls es ihn gäbe, viele davon zu entschädigen hätte, ist nicht unbedingt gesagt: In Frankreich waren 2012 vom Oniam 82 Klagen wegen nosokomialer Infektionen zur weiteren Betreuung angenommen worden, schreibt das Office in seinem Jahresbericht. Das klingt nach wenig für einen 70-Millionen-Einwohnerstaat, aber ein entscheidendes Kriterium dürfte eben sein, was genau als aléa thérapeutique gelten kann und was nicht.

Diese Frage wird politisch spannend werden. Neben der, wer den Fonds speisen soll. Der Ärzteverband wollte das 2007 einer „Solidarität“ aus Staat, Krankenkasse, Patienten und Versicherern überlassen, aber sicherlich nicht die Ärzteschaft daran beteiligen. Die dem OGBL nicht ganz ferne Patientevertriedung wollte vor allem die Gesundheitsdienstleister dazu heranziehen, wohlgemerkt aber nicht allein die Ärzte. Kam diese Idee für die AMMD vor Jahren dennoch einer Provokation gleich, gibt sie sich nun zurückhaltender: „Für die Finanzierung gibt es viele Möglichkeiten“, erklärt ihr Generalsekretär. Offenbar ist der Fonds der Ärzteschaft sehr viel wert.

Aber das liegt nicht nur daran, dass man die Haftpflichtprämien sinken sehen will. Die Luxemburger Rechtsprechung zu Patientenklagen hat sich in den letzten Jahren in Richtung US-amerikanischer Zustände entwickelt. Die Gerichte suchen nach dem kleinsten nachweisbaren Fehler, um einen Arzt, oder auch ein Spital, verurteilen zu können. Das kann auch den Patienten nicht unbedingt egal sein. Dass sich Patientenbeschwerden häufen, trug dazu bei, dass die Haftpflichtprämien für bestimmte Facharztdisziplinen nicht nur enorm gestiegen sind, sondern beispielsweise unter Gynäkologen tatsächlich die Furcht umgeht, womöglich bald gar nicht mehr versichert zu werden: Nach Entbindungen wird besonders oft reklamiert. Auch deshalb sehen Gynäkologen in Schwangeren „Risikopatientinnen“, stimmen, um „sicher zu gehen“, öfter als früher Kaiserschnittentbindungen zu, und werden diese hierzulande, verglichen mit dem Ausland, sehr häufig vorgenommen.

Bedenken, die gegen die Einführung eines solchen Fonds und die Aufnahme des aléa thérapeutique in die Begriffswelt des medizinischen Zivilrechts sprechen, gibt es allerdings auch. Der frühere Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) wollte stets zuerst die Mediation nach Patientenklagen stärken, ehe an einen solchen Fonds zu denken sein sollte. Ex-Premier Jean-Claude Juncker wird nachgesagt, prinzipiell dagegen gewesen zu sein, die „Haftbarkeit ohne Fehler“ ins Zivilrecht aufnehmen zu lassen – warum, ist nicht bekannt.

Bedenken dagegen gibt es aber nach wie vor, auch wenn DP, LSAP und Grüne in den Koalitionsverhandlungen politisch entschieden haben. Betreffen würde die Reform vermutlich vor allem Beschwerden nach Krankenhausbehandlungen. Darauf deuten die Erfahrungen in Belgien hin, wo bis zum Frühjahr 2013 rund vier Fünftel der beim Fonds des accidents médicaux eingegangenen Anträge von Klinikpatienten eingereicht wurden. In Luxemburg aber gibt es nach wie vor keine funktionierende nationale Initiative für Behandlungsqualität, wird bei der Patientevertriedung beklagt, obwohl sie seit 2009 in der großherzoglichen Verordnung über den Spitalplan vorgeschrieben ist. Und die einheitliche Dokumentation von Diagnosen und Prozeduren in den Spitälern ist bisher nur ein Pilotprojekt. Da müsse man unbedingt vermeiden, dass „am Ende alles“ zum aléa thérapeutique erklärt wird.

Peter Feist
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