Europawahlen

Das Wählerwesen

d'Lëtzebuerger Land vom 30.05.2014

Ein Herrenduo tingelt durch Europa. Ein Herrenduo klappert Landstriche ab, geht aber nicht auf den Landstrich. Das Herrenduo muss immer viel stehen, Antwort stehen. Vor einem ziemlich frisch gewaschenen Publikum. Es geht gesittet zu, niemand wirft Eier oder flucht oder beschimpft die Herren, alle sind sehr nett zueinander. Einer der beiden Herren ist ein Vollblutbrusttonpolitiker, er wirft sich voll in die Brust und spuckt Floskeln und Formeln ins Publikum, sogar Gemeinplätze. Der andere wirkt schon etwas erschöpft, so lange trottet er schon durch die Manege. Aber das freundliche Publikum wacht manchmal kurz auf, wenn er in seinem schwerfälligen Akzent vor sich hin murmelt. Er schmuggelt nämlich geschickt Geistreiches unter seine Floskeln.

Manchmal nicken beide kurz ein, nicken einander oder dem Wähler, dem unbekannten Wesen, zu.

Das ist ja leider immer noch unzulänglich erforscht. Es macht seltsame Bewegungen, plötzliche, unwirsche, dann dümpelt es träge vor sich hin und bewegt sich jahrzehntelang nicht. In letztet Zeit ist es hyperaktiv geworden und schlägt hektisch um sich, vielleicht wegen der Klimakatastrophe oder dem Genmais, oder sonst etwas Amerikanischem. Es kennt sich ja keiner mehr aus.

Die Wählerin ist verdammt wählerisch geworden, sie nimmt nicht mehr alles und jeden und nicht mehr den ersten Besten. Manchmal nimmt sie einen Dahergelaufenen, plötzlich, was fällt ihr ein, war der Alte nicht gut genug. Dann will sie plötzlich wieder gar keinen. Man kann ihr nichts recht machen, Herr_in Expert_in, bitte interpretieren Sie! Die Wählerin schwimmt nicht mehr im Wählerstrom, eben war sie doch noch hier, jetzt ist sie wieder ganz woanders.

Kann man dieses Wesen, das sein Unwesen treibt, sogar bei uns in Europa, denn nicht ertappen? Ist es ein Jungmann, gefährliche Sorte bekanntlich, ein reifes Weib, ein Arbeiter Bauer Edelmann? Oder gar eine Kulturtheoretikerin? Man muss es doch überführen können und dann auch führen. Sonst wird es nämlich verführt, Sie und wir wissen schon, wohin das führt, jaja murmel grübel stirnfalt.

Der Schwarm ist jetzt ganz woanders hin gestoben, grübel hm, was ist jetzt mit der Schwarmintelligenz? Haben wir sie vielleicht überschätzt, Herrin Schwamrmintelligenzexpertin? Ist denn das Wesen Wähler_in überhaupt noch berechenbar? Es wechselt schließlich die Farben und Fahnen wie es ihm passt, wie Unterhosen, mal blau, mal rosa, mal lila. Mal ganz ohne, na so was. Dann wieder satanisch schwarz, aus heiterem Himmel, wer hätte das gedacht, eben war alles so fröhlich, so bunt. Wie konnte das jetzt wieder passieren, ich glaube, das Wesen ist schwer umnachtet. Vielleicht ist es sogar unzurechnungsfähig, was sagen Sie, Herr_in Wählerexpertin? Sollte man ihn/sie oder welchen Geschlechts dieses Wesen auch immer sein mag, vielleicht entmündigen? Nein, pardon, Scherz, wir leben ja in der EU, Gottseidank. Denken Sie an die Menschenrechte. Die Werte. Die Freizügigkeit. Studieren in London, und sich dann in der Toskana etablieren. Für so was kann man schon zur Urne schreiten, das ist wohl nicht zu viel verlangt.

Theoretisch könnte man den Wähler_innen die Gehirne waschen, aber so etwas lehnen wir prinzipiell ab. Kommunizieren, das ist das A und O, Angebote machen, Überzeugungsarbeit leisten. Und aufklären! Immer wieder aufklären. Wie viele Broschüren haben wir denn verschickt und wie viele Vorträge gehalten. Und wir twittern rund um die Uhr. Um Entscheidungshilfe zu leisten. Die Welt ist ja komplex geworden, die alten Strukturen sind zusammengebrochen, kein Wunder, dass das Wählerwesen sich verwirrt herum treibt. Oder verängstigt hinter dem Vorhang hervor lugt. Hat es denn gar keine Heimat mehr, wie schrecklich ist denn das. Es sehnt sich nach seinem Dach von Stroh, Kopf voll Stroh. Es irrt herum durch die globalisierte Welt, überall lauern Kommissare, Ratspräsidenten, sie wollen eine Stimme, nur eine Stimme, sonst nichts, so schlimm ist das eigentlich auch nicht.

Das Wählerwesen stellt sich tot oder grillt. Es schwimmt ein bisschen oder fährt U-Bahn, oder liest dem Gatten Lyrik von Droste-Hülshoff vor. Oder macht gar nichts, oder etwas.

Aber es gibt Länder, da muss das Wesen wählen. Irgend etwas.

Michèle Thoma
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