Dreiundneunzig Seiten lang sind die Betrachtungen, die Ende vergangener Woche die Salariatskammer (CSL) über die öffentlichen Finanzen und die Wettbewerbsfähigkeit Luxemburgs veröffentlichte. Das sind vier Seiten mehr, als Entreprise Luxembourg 2.0, die Empfehlungen der Handelskammer von Mitte Juni an die Koalitionsverhandlungen, und das ist vielleicht so beabsichtigt: Ähnlich wie vor einem Jahr, als die damalige Privatbeamtenkammer mit der Handelskammer auf hohem Niveau über Inflation und Index stritt (d’Land, 8.6.2008), konkurriert auch die fusionierte Salariatskammer mit dem Think tank von der anderen Seite um ökonomischen Sachverstand.
Man konkurriert aber auch um Einfluss auf die Politik. Während die Handelskammer vor dem Hintergrund der weltweiten Krise für ein neues „Paradigma“ eintritt, das sich stärker an der Lissabon-Strategie der EU orientiert, und das Sozialsystem grundlegend reformieren will, hat der OGB-L der künftigen Regierung bereits die sozialpolitisch „rote Linie“ gezeigt und auf die „Einheitsfront“ verwiesen, die am 16. Mai gegen Sozialabbau und für Kaufkraft-erhalt demonstriert hatte.
Und so erklärt die Salariatskammer den Sozialstaat „strukturell“ für ebenso „gesund“ wie die öffentlichen Finanzen überhaupt. Reformbedarf gibt es für die CSL in Bereichen wie der Bildung oder in Forschung, Entwicklung und Innovation. Abgesehen davon jedoch habe Luxemburg derzeit lediglich konjunkturelle, also „zyklische“ Probleme.
Weil noch in diesem Jahr die Tripartite über die weitere Zukunft des symbolträchtigsten sozialpolitischen Instruments Luxemburgs entscheiden muss, führen beide Kammern ihre Index-Debatte fort. Mitte Mai hatte der Arbeitgeberverband UEL gewarnt, die Jahresinflationsrate könne hierzulande 2010 wieder bei zwei Prozent liegen, während die EU-Kommission für die Euro-Zone mit nur 1,2 Prozent rechnet. Weil nach Ansicht der Handelskammer sich eine Indextranche vor allem unter dynamischen Bedingungen, wie einem sprunghaften Anstieg der Erdölpreise, negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe auswirkt, plädiert sie wie schon vor vier Jahren nicht nur für eine maximale Indextranche auf den 1,5-fachen Mindestlohn, sondern auch für die Herausnahme besonders „volatiler“ Komponenten aus dem Warenkorb, wie Alkoholika, Tabakwaren und Erdölprodukte.
Die Salariatskammer dagegen verleiht der Diskussion gleich mehrere neue Facetten. Dauerhaft hohe Inflation sei nur schädlich, wenn sie zu Preiserhöhungen zwingt. Verteuert sich zum Beispiel die Produktion stark, ließen die dann zwangsläufig erhöhten Preise die Betriebe weniger kompetitiv werden, was wiederum zu sinkender Produktion führe.
Allerdings meint die Salariatskammer, dass die Lohnkosten in Luxemburg „nullement pénalisants pour les entreprises“ seien. Ganz im Gegensatz zur UEL, die im Mai beanstandet hatte, zwischen 2000 und 2008 seien die Lohnstückkosten mit einem Minus von 0,3 Prozent längst nicht so stark zurückgegangen wie in den Nachbarländern, die Luxemburgs Haupt-Handelspartner sind: zwischen -0,9 Prozent in Frankreich und -6,5 Prozent in Deutschland. Und das trotz dem 2006 von der Tripartite vereinbarten Eingriff in den Indexmechanismus.
Für die Salariatskammer sind solche Ländervergleiche „willkürlich“: Der Vergleich nominaler Lohnstückkosten stelle Löhne, die in Preisen ausgedrückt werden, ins Verhältnis zu einem Mehrwert in Preisen. Den Mehrwert in Preisen ausdrücken zu können, setze aber voraus, die Abhängigkeiten von Produktionsvolumen und Preisen voneinander zu kennen.
Da der Statec in seiner Konjunkturnote 2/2007 festgestellt hatte, die Messung dieser Abhängigkeiten besitze vor allem in der für Luxemburg so bedeutsamen Finanzbranche „toutes les caractéristiques d’un véritable casse-tête“, erklärt die Salariatskammer nicht nur den Indikator zur Messung der Lohnstückkosten-Kompetitivität für „ungeeignet“ und weist alle Behauptungen über hierzulande ungünstige Lohnstückkosten zurück. Aus Daten von Statec und Eurostat hat sie einen Ländervergleich der Gewinnmargen nach Lohnzahlungen für ausgewählte Branchen in Luxemburg und den drei Nachbarländern erstellt. Ihren Berechnungen nach sind, abgesehen lediglich von den Branchen Bauwesen sowie der Energie- und Wasserversorgung, die Brutto-Betriebsergebnisse in Luxemburg am höchsten. Derart „goldene Margen“ böten den Unternehmen genug Spielraum zur Preiszurückhaltung, um die eigene Position am Markt nicht zu gefährden, meint die Salariatskammer. Das falle um so leichter bei allgemein hohem Wachstum, für welches die hierzulande im Vergleich zum nahen Ausland hohe Inflation stets ein Indikator gewesen sei.
Für ebenfalls unbegründet hält die Salariatskammer Befürchtungen über Produktivitätsverluste: Daten der EU-Kommission vom Frühjahr zufolge hat in Luxemburg zwischen 2000 und 2008 die Arbeitsproduktivität um 3,6 Prozent abgenommen, während sie in den Nachbarländern um zwischen 2,5 Prozent (Frankreich) und 6,9 Prozent (Deutschland) wuchs. Der Rückgang sei jedoch dadurch zu erklären, dass die Schaffung neuer Arbeitsplätze der Wirtschaftsentwicklung stets mit Verzögerung folge und der Jobzuwachs, der nach überstandener Dotcom-Krise einsetzte, erst 2008 seinen Höhepunkt erreichte. Allein in jenem Jahr sei in Luxemburg das BIP pro Arbeitskraft um 5,4 Prozent gesunken; insgesamt betrachtet, liege es jedoch um zwischen 35 Prozent (gegenüber Belgien) und 70 Prozent (gegenüber Deutschland) über dem der Nachbarländer. Wollte Deutschland, dessen Produktivitätszuwächse die Luxemburgs zuletzt übertrafen, das Luxemburger Produktivitätsniveau erreichen, werde es bei seiner augenblicklichen Leistungskraft dafür nicht weniger als 260 Jahre benötigen, hebt die Salariatskammer in ihrem Bericht in Fettdruck hervor.
Dass sie immer wieder bekräftigt, die Probleme Luxemburgs seien „nur zyklisch“, ist auch ein Versuch, die höchstwahrscheinlich alt-neuen Koalitionspartner CSV und LSAP daran zu erinnern, dass ihr auf rasch überholte Annahmen gestützter Staatshaushalt 2009 im Nachhinein „antizyklisch“ gemeint gewesen sein sollte und die neue Regierung diesen Weg weitergehen müsse: Dass zumindest die größte Gewerkschaft Anti-Krisen-Maßnahmen nicht nur durch eine Erhöhung der Solidaritätssteuer finanzieren würde, sondern ebenfalls durch eine erhöhte Schuldenaufnahme des Staates, hatte der OGB-L schon im Frühjahr im Wirtschafts- und Sozialrat publik gemacht. Und energischen Widerspruch des Patronats hervorgerufen.
Aber wenn schon im laufenden Haushaltsjahr dem Zentralstaat ein Defizit von rund einer Milliarde Euro entstehen dürfte, das so groß wäre wie der Staatsbeitrag zur Rentenkasse des Privatsektors, dann könnte es nicht nur sein, dass der neue Finanzminister wie sein Vorgänger die staatlichen Sozialtransfers in Frage stellt. Am Ende könnte die Regierung wie das Patronat gegen die Wiedereinführung des Index sein; auch mit LSAP-Ministern im Kabinett.
Deshalb beschreibt die CSL unter dem Titel „Une situation déjà rencontrée“ ausführlich, welche Tradition die Unterschätzung der Staatseinnahmen habe, und beklagt, noch im April 2006, gegen Ende der Tripartite, habe die damalige Regierung das Haushaltsjahr 2005 falsch eingeschätzt: „Même pour 2005, la situation budgétaire est largement meilleure qu’affirmée lors des discussions tripartite et en améliora-tion par rapport à 2004. On est passé d’un déficit de l’Administration publique de 1,1% du PIB à un équilibre de 0% en 2005, une année donc, pour laquelle les mesures de l’accord n’ont décidemment pas joué.“
Wenn die Salariatskammer an die Adresse der Regierung resümiert, die Indexmanipulation habe den Zentralstaat um lediglich 70 Millionen Euro entlastet, und dem Patronat vorrechnet, der Branchenvergleich mit den drei Nachbarländern habe ergeben, dass die Lohnstückkosten hierzulande, von wenigen Ausnahmen abgesehen, „systematisch“ niedriger seien, die Kapitalstückkosten dagegen ebenso „systematisch höher“, die Lohnindexierung also „nichts“ an den Margen der Unternehmen ändere – dann wird auch deutlich, wie strategisch wichtig für die Gewerkschaften die Wiedereinführung des Index ist.
2006 hatte der OGB-L-Vorstand die Tripartite-Abmachungen und den Eingriff in den Index-Mechanismus gegenüber seinen Militanten mit dem Argument verteidigt, man habe dadurch weiteren Sozialabbau abwenden können. Aber nur 61 Prozent der Delegierten zum Nationalvorstand stimmten nach „harten und kontroversen Debatten“ den Abmachungen zu. Auch der LCGB gab an, man habe „äußerst kontrovers“ diskutiert, nannte aber keine Zahlen (d’Land, 28.4.2006). In den Betrieben hieß es, die Gewerkschaften hätten den Index und die Rentenanpassungen zur Disposition gestellt, ohne eine handfeste Gegenleistung zu erhalten, und sogar Patronatsvertreter meinten hinter vorgehaltener Hand, die Regierung habe die Gewerkschaften über den Tisch gezogen. Die Scharte von damals soll diesmal ausgewetzt werden.