Sozial- und Pflegesektor

Staatsbindung

d'Lëtzebuerger Land du 18.06.2009

Gestern trafen sie sich erneut: OGB-L und LCGB auf der einen Seite, auf der anderen die Vertreter der fünf Arbeitgeberverbände aus dem Sozial- und dem Pflegebereich. Verhandelt wird ein neuer Kollektivvertrag für den „SAS-Sektor“. So wird die Branche abgekürzt, die Kinderheime und Behinderten-Tagesstätten ebenso umfasst wie Senioreneinrichtungen und mobile Pflegedienste. Den letzten Kollektivvertrag hatten die Gewerkschaften 2006 gekündigt. Die Gespräche über das neue Tarifabkommen aber sind so komplex und politisiert worden wie lange nicht. Seit die Arbeitgeberseite im Februar dieses Jahres erklärte, sich mit OGB-L und LCGB nicht einigen zu können, beschäftigt der Streitfall den Schlichter.

Aber eigentlich gehört dieser Tarifkonflikt auch dort nicht wirklich hin. Denn was die Gewerkschaften fordern, übersteigt bei Weitem das, was die Gegenseite ihnen zusagen könnte – selbst, wenn sie es wollte. Umgekehrt sind die Forderungen des Sozial-Patronats von potenziell großer Bedeutung auch über den Sozialsektor hinaus. Im Kern dreht die Auseinandersetzung sich um die brisante Frage, inwiefern die Branche weiterhin als „parastaatlich“ aufgefasst werden soll. Die Arbeitgeberseite will mit der Regel, dass SAS-Kollektivverträge die Gehälterabschlüsse im öffentlichen Dienst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung einfach nachvollziehen, bereits seit Jahren brechen. Ginge es nach ihr, würde das Personal nicht nur nach Berufsabschluss und Berufserfahrung bezahlt, sondern auch nach der „Funktion“. 

Dass die sich festmachen soll an Kriterien wie „Kreativität“, „Disponibilität“ oder dem Umgang mit Informatik, lehnen die Gewerkschaften seit 2006 als „realitätsfremd für den Sozialsektor“ ab. Und kontern mit eigenen Forderungen: Zunächst wollten OGB-L und LCGB vor allem die seit fast zwei Jahrzehnten verlangte Einstufung der graduierten Erzieher (éducateurs gradués) in eine Bac+3-Laufbahn erreichen und die der diplomierten Erzieher (éducateurs) sowie der im Pflegewesen tätigen Krankenpfleger als Bac+1. Seit Anfang des Jahres treten sie auch dafür ein, dass die SAS-Branche den Tarifvertrag des Klinikwesens übernimmt: Einerseits der Einfachheit halber, denn manche Pflegeheime waren schon immer an die Krankenhaus-Entente gebunden. Andererseits ist dieser Vertrag für die Beschäftigten günstiger und legt die 38-Stunden-Woche fest, wo im SAS-Vertrag 40 Stunden gelten. Er kostet allerdings auch zehn Prozent mehr. 

Dass die Gewerkschaften eine Lösung in ihrem Sinne so schnell wie möglich erreichen wollen, hat mit der Regierungsbildung und mit den Umständen zu tun, unter denen sie stattfindet: Würde tatsächlich eine Kürzung der Einstiegsgehälter im öffentlichen Dienst beschlossen, wäre der Sozialsektor zwangsläufig ebenfalls betroffen. Immerhin hat die Wahlen am 7. Juni mit der CSV jene Partei haushoch gewonnen, die im Rahmen einer „Gehälterrevision“ nicht nur die Kürzung der Einstiegsgehälter angekündigt hat, sondern den öffentlichen Dienst auch „effizienter“ machen und das „Leistungsprinzip“ einführen will. Da kommt die Abwehr von Leistungskriterien im parastaatlichen Sozialbereich vor allem durch den OGB-L auch einer Demonstration gleich, sich vielleicht noch besser als die CGFP es könnte, für die Aufwertung öffentlicher Laufbahnen einsetzen zu können.

Aber selbst wenn über die Einstiegsgehälter im Rahmen einer „Gehälterrevision“ entschieden würde, die länger dauerte: Hätte die neue Regierung sich erst einmal zum weiteren Krisenmanagement und den Staatsausgaben positioniert, wird es schwerer, etwas durchzusetzen, das den Staatshaushalt belastet. 

Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist es nicht das von einem Arbeitgeber erwirtschaftete Geld, dessen Verteilung der SAS-Tarifvertrag regelt. Sondern es sind staatliche Zuwendungen an soziale Träger im Rahmen von Konventionen und Entgelte des Staates für einen service public. Oder es sind die Eigenbeteiligungen der Eltern an der Betreuung ihrer Kinder; die Preise, die Pflegebedürftige für die Unterbringung in Pflegeheimen bezahlen, sowie Entgelte aus der Pflegeversicherung für erbrachte Leistungen. Wobei die Pflegeversicherung zum Teil von den Versicherten selbst, zum Teil aus dem Staatshaushalt finanziert wird.

Dass die Gewerkschaftsforderungen, die über die automatische Übernahme des „Punktwerts beim Staat“ hinausreichen, zu Lasten der Allgemeinheit oder von Bedürftigen gehen, hat Verhandlungen darüber schon immer heikel gemacht – und war der Politik Anlass, sich zurückzuhalten und die Sozialpartner auf ihre „Tarifautonomie“ zu verweisen, die in Wirklichkeit enge Grenzen hat.

Diesmal aber scheint es wichtiger als sonst, dass die Regierung sich tatsächlich des Konflikts im Sozialsektor annimmt. Nicht nur, weil die Aufbesserungen, die die Gewerkschaften verlangen, einen Finanzierungsbedarf mit sich brächten, der im zweistelligen Millionenbreich liegen soll und über den nur politisch entschieden werden kann. Es stellen sich auch generelle Fragen – etwa für die Pflegeversicherung. In der vergangenen Legislaturperiode wies die Regierung, aber auch die Gesundheitskasse CNS immer wieder darauf hin, dass die Kosten der Pflege zu begrenzen seien. Wie die Pflegepreise unter Druck geraten sind, zeigt, dass der Pflegedienstleisterverband Copas die Verhandlungen mit der CNS um den so genannten mittleren Entgeltwert zur Festsetzung der Pflegepreise in den drei letzten Jahren nie ohne Schlichtungsprozedur beenden konnte. Soll die Pflege dann weiter verteuert werden?

Eine ebenfalls politisch bedeutsame Frage ist die nach der Einstufung des Personals: Die fast 20 Jahre alten Forderungen nach besserer Bezahlung der graduierten Erzieher lebten wieder auf, nachdem die Regierung den Grundschullehrern jene bis zu 20-prozentige Brutto-Gehaltserhöhung zugesagt hatte, die Anfang September in Kraft tritt. Da sowohl Grundschullehrer als auch Erzieher an der Uni Luxemburg einen Bachelor-Abschluss erwerben, müsste die Beseitigung dieser offensichtlichen Ungerechtigkeit nicht nur der LSAP einleuchten, die in ihrem Wahlprogramm eine solche Karrieren-Aufbesserung versprochen hatte. Sondern auch der CSV, die für den gesamten öffentlichen Dienst erklärte, eine Gehälterrevision werde „vor allem“ wegen der Bologna-Kriterien zur einheitlichen Anrechnung von Hochschulabschlüssen nötig.

Die Frage stellt sich allerdings, ob solche Laufbahn-Aufwertungen nicht dazu führen, dass die Branche vermehrt niedriger Qualifizierte einstellt, um wiederum dem Preisdruck zu entgehen – und ob das akzeptabel ist. Vor fünf Jahren fand die damalige Regierung eine Lösung für den Klinikbereich, wo sich sinngemäß dasselbe Problem stellt: Um den Bedarf an vergleichsweise teuren Krankenpflegern einzudämmen, erweiterte sie durch eine großherzogliche Verordnung das Tätigkeitsfeld der schlechter bezahlten Pflegehelfer. Derweil übernehmen in den neuen Maisons relais auch schon mal Küchenhilfen die Hausaufgabenhilfe. 

Und zu guter Letzt war es die Politik gewesen, die die Voraussetzungen dafür schuf, dass die Staatsbindung des Sozial- und Pflegesektors sich nicht mehr überall einheitlich begründen lässt: Die Kinderbetreuung könnte man wohl einen Service public nennen – um so mehr, je näher Maisons relais und Chèques-service sie an eine öffentliche Daseinsfürsorge rücken, die sogar einmal gratis werden könnte. Schwerer zu erklären ist die Staatsbindung der Alten- und Pflegeversorgung: Hier soll seit der Einführung der Pflegeversicherung vor zehn Jahren sogar von Gesetz wegen Konkurrenz herrschen, und es besteht die freie Wahl des Dienstleisters. Da überrascht es kaum, dass vor allem die Pflegedienstleister für den Übergang zum „Funktionsprinzip“ für das Personal plädieren. 

Peter Feist
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