Ist es die Krise, sind es die Wahlen, ist es die Ökumene? So breit wie bei der Kundgebung „Gemeinsam gegen den Sozialabbau“ am morgigen Samstag war die traditionell rissige Gewerkschaftsfront seit Jahrzehnten nicht mehr. Angeregt von einer internationalen Bewegung des Europäischen Gewerkschaftsbunds gegen den Sozialabbau im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzkrise, soll für die Arbeitsplätze, die Kaufkraft, die Sozialversicherung und den Index demonstriert werden.
Denn manche Gewerkschafter befürchten, dass nach den Wahlen in drei Wochen „der dicke Hammer“ kommt, ein Lohnstopp verhängt, der Index weiter manipuliert oder das Arbeitslosengeld gekürzt wird, wie OGB-L-Präsident Jean-Claude Reding am Montag aus dem Forderungskatalog des Unternehmerverbands UEL herauslas. Und CGFP-Generalsekretär Romain Wolff hielt es am Mittwoch für nötig, dass die Gewerkschaften ihre Stärke demonstriert haben, wenn rasch nach den Wahlen und noch vor dem Sommerurlaub die Tripartite zusammenkommen soll.
Weil die Veranstalter es aber lieber im Unklaren ließen, gegen wen sie demonstrieren wollen, können sie sich so kurz vor den Wahlen ihrer vielen Freunde kaum erwehren. Würde anderswo bei einer historisch hohen Arbeitslosigkeit beispielsweise gegen den Arbeitsminister demonstriert, hat Arbeitsminister und CSV-Präsident François Biltgen bereits sicherheitshalber angekündigt, selbst im Tross der Demonstranten mitzumarschieren. Da erscheint es schon fast beruhigend, wenn OGB-L-Präsident Jean-Claude Reding, dessen Organisation um die 100 000 Flugblätter verteilte, sich Anfang der Woche wunderte, dass am Wochenende nicht nur Bauarbeiter und Verkäuferinnen arbeiten müssen, sondern auch die Stahlindustrie, trotz dünner Auftragsbücher, die Produktion am Samstagnachmittag wieder hochfahren wolle.
Um sich ihrer vielen Freunde zu erwehren, haben die Gewerkschaften für hiesige Verhältnisse, wo die Osmose zwischen Politik und Gewerkschaften zum Alltag gehört, eher ungewöhnliche Vorkehrungen getroffen. So soll ein von allen Gewerkschaften bestrittener Ordnungsdienst dafür sorgen, dass an der Spitze der Kundgebung nur Gewerkschafter marschieren. Jede Gewerkschaft hat Anrecht auf acht Vertreter, die erstmals mit eigenen Passierscheinen ausgerüstet sind, um sich mit Stuurzekapen und Windjacken proletarisch verkleidete Minister und Abgeordnete vom Hals zu halten. So dass die einzigen Politiker, die an der Spitze der Kundgebung vom Hauptbahnhof durch die avenue de la Liberté ins Stadtzentrum marschieren werden, die drei CSV-Kandidaten des LCGB sein könnten.
In Vorbereitungssitzungen wurde auch die Reihenfolge der Ansprachen am Fuß der Gëlle Fra geregelt. Nacheinander sollen Vertreter von OGB-L, CGFP, LCGB und Aleba reden. Um die Trennung von Gewerkschaften und Politik zu wahren, hatten die anderen Gewerkschaften den LCGB gebeten, einen Redner zu bestimmen, der nicht Kandidat ist. Doch die Exekutive des LCGB teilte den Kollegen inzwischen mit, dass Präsident und CSV-Kandidat Robert Weber für die christliche Gewerkschaft reden wird.
Die NGL-Snep hatte einen Brief an OGB-L-Präsident Jean-Claude Reding geschickt, um seine Unterstützung für die Kundgebung zu erklären und um an den Vorbereitungsversammlungen teilnehmen zu können. Doch laut Generalsekretär Armand Wildanger bekam die Gewerkschaft nie eine Antwort. So ruft sie zwar zur Kundgebung auf, ihr Name steht aber nicht auf dem gemeinsamen Plakat. Wildanger erklärte sich das am Mittwoch damit, dass die anderen Gewerkschaften nicht die Vorwürfe der NGL-Snep hören wollen, sie würden nun kurz vor den Wahlen gegen den Sozialabbau protestieren, den sie selbst in der Tripartite miteingeleitet hätten. Ähnliche Töne hatte es auch bei der Bankengewerkschaft Aleba gegeben, die zudem mit der NGL-Snep in der Fédération syndicale vereinigt ist. Um so stolzer ist der OGB-L nun darauf, dass die Aleba sich in die Gewerkschaftsfront einreiht.
Ein Zeichen setzt aber vor allem die Präsenz der CGFP, die in der Vergangenheit oft bemüht war, das Staatsbeamtenstatut dadurch zu verteidigen, dass sie sich von den Beschäftigten der Privatwirtschaft absonderte. Eine neue Führungsgeneration auf beiden Seiten ermöglicht es zudem der CGFP, dem OGB-L den „Verrat“ bei der Pensionsrefom vor zehn Jahren zu verzeihen. Und die CSV hat das Ihre zur neuen Gewerkschaftseinheit beigetragen mit ihrer in den eigenen Reihen umstrittenen Ankündigung, die Anfangsgehälter im öffentlichen Dienst zu kürzen. So dass Romain Wolff nun „die vollste Solidarität“ der Beamtengewerkschaft „mit den Beschäftigten der Privatwirtschaft“ erklärte.
Wenn drei Wochen vor den Wahlen wieder die soziale Frage auf die Tagesordnung gesetzt werden soll und selbst Regierungspolitiker für und gegen sich selbst demonstrieren, bleibt, wohl nicht zufällig, kein Platz mehr für die liberale Opposition. DP-Präsident Claude Meisch erklärte am Dienstag auf Nachfrage, dass seine Partei weder einen „Beschluss von oben“ getroffene habe, um zur Beteiligung an der Kundgebung aufzurufen, noch den liberalen Politikern von einer Teilnahme abzuraten. Wahrscheinlich sei, dass manche DP-Kandidaten, die einer der Gewerkschaften angehörten, mitmarschierten. Meisch selber wird zur Zeit der Kundgebung auf dem Nationalkongress der DP-Jugendorganisation JDL in Bartringen erwartet, wo er eine Grußbotschaft der Partei überbringen soll. Doch selbst ohne diese Verpflichtung würde er eigen Aussagen zufolge nicht mitprotestieren.