Reform der Unfallversicherung

Überall Zivilisten

d'Lëtzebuerger Land du 03.09.2009

Wenn die Staatsbeamtengewerkschaft CGFP im Oktober ihre traditionelle sozialpolitische Rentrée stattfinden lässt, könnte sie Anlass haben, einen Angriff auf das öffentliche Statut abzuwehren: Innerhalb der gesetzlichen Unfallversicherung sollte es kein Spezialregime für öffentlich Bedienstete mehr geben – dieser Meinung sind nicht nur die Handelskammer und die Handwerkskammer. Der Staatsrat bezweifelt, ob die Beibehaltung des Spezialregimes mit dem Gleichheitsgrundsatz in Verfassungsartikel 10bis vereinbar wäre.

Solche Äußerungen sind natürlich besonders pikant in einer Zeit, da die neue Regierung eine „Revision verschiedener Beamtenlaufbahnen“ und eine Kürzung der Anfangsgehälter im öffentlichen Dienst „kostenneutral“ gegeneinander aufrechnen will, eine allgemeine Gehälterreform unter „Finanzierungsvorbehalt“ steht und in der Tripartite ein Krisenopfer des öffentlichen Dienstes vielleicht noch zur Sprache kommt. Und es ist gerade mal zwei Jahre her, dass die Patronatsverbände mit der Fedil an der Spitze während Monaten immer wieder öffentlich bedauerten, dass das Einheitsstatut nicht auch auf den öffentlichen Sektor ausgedehnt werden sollte.

Zu meinen, vor allem im Staatsrat sei womöglich ein liberaler Flügel erstarkt, der nun ein politisches Spiel mit dem öffentlichen Statut triebe, wäre allerdings zu einfach gedacht. Gegenstand der Diskussion ist der Vorschlag zur Reform der Unfallversicherung, den im Juni vergangenen Jahres die damalige schwarz-rote Regierung machte (d'Land, 25. Juli 2008). Seitdem geht er in Form eines Gesetzentwurfs seinen Instanzenweg. Die Neuauflage der großen Koalition hat in ihrem Regierungsprogramm die Reform weiterzuführen versprochen. Seit 1925 aber gab es keinen derart weitreichenden Änderungsversuch an der zweitältesten Branche der Sozialversicherung hierzulande, die 1902, nur ein Jahr nach der ersten gesetzlichen Arbeiterkrankenkasse entstand. Im Lichte des Reformvorschlag erscheinen die Bedenken des Staatsrats nicht unbegründet.

Denn die größte Innovation soll in abgeänderten Entschädigungsregeln für bleibende Unfallschäden bestehen. Ist ein Berufstätiger von den akuten Folgen eines Arbeits- oder Wegeunfalls genesen, aber weiterhin teilweise arbeitsunfähig, so dass ihm ein Verdienstausfall entsteht, steht ihm eine Teilrente  aus der Unfallversicherung zu. Derzeit wird sie ausgesprochen pauschal gezahlt und beträgt 86,5 Prozent des zuletzt bezogenen Verdienstes, multipliziert mit dem Grad der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit in Prozent.

Dass diese Formel, die 1925 für Industriearbeiter angemessen gewesen sein mag, im heutigen Luxemburg mit seinen zum Teil extremen Gehaltsunterschieden längst nicht mehr gerecht ist, ermittelte bereits 2001 der Wirtschafts- und Sozialrat. In einem Sondergutachten zeigte er, dass in einer Stichprobe von über 3 000 einstigen Unfallopfern, die zu­sätz­lich zu ihrem Gehalt noch eine Teilrente von der Unfallversicherung bezogen, 57 Prozent ein in der Summe höheres Monatseinkommen erziel­ten als vor dem Unfall. Deshalb sollen künftig der Verdienstausfall zum einen sowie bleibende Körper- und seelische Schäden zum anderen streng voneinander getrennt ersetzt werden. Damit aber hält ins Regelwerk der Unfallversicherung der dommage moral aus dem zivilen Haftungsrecht Einzug, und bei so viel Nähe zum Zivilrecht hält der Staatsrat die Beibehaltung eines Spezialregimes für den öffentlichen Dienst für „difficilement justifiable“. In seinem am 14. Juli verabschiedeten Gutachten zur Unfallversicherungsreform droht er der Regierung mit einem formellen Einwand zum Gesetzentwurf – es sei denn, sie liefere „d’explications convaincantes de nature de dissiper les doutes sérieux du Conseil d’État quant à la comptabilité de cette disparité de traitement avec le principe constitutionnel de l’égalité devant la loi“.

Als hätte sie bereits Gefahr im Verzug erkannt, stellte die Berufskammer der Staatsbeamten und öffentlichen Angestellten schon im Oktober 2008 „avec satisfaction“ fest, dass die Regierung an das Unfall-Spezialregime nicht rühren will. Eingeführt wurde es 1961, aber die Unterschiede gegenüber dem allgemeinen Regime sind mittlerweile nicht mehr allzu groß: So kann eine Unfallrente im Spezialregime auf der Grundlage der mittleren Monatsbezüge im dem Unfall vorangegangenen Jahr berechnet werden, muss aber nicht, wie im allgemeinen Regime. Stattdessen können im Spezialregime, falls der Betroffene dabei besser wegkommt, die Bezüge zugrunde gelegt werden, die er unmittelbar vor dem Unfall erhielt.

Den großen Unterschied stellen die Regeln zur Entschädigung älterer öffentlich Bediensteter dar, für die noch das 1998 abgeschaffte Spezial-Pensionsregime für den öffentlichen Dienst gilt. Dank vorteilhafter Kumul-Bestimmungen können sie noch stärker vom Unfall-Spezialregime profitieren: Bezieht ein im allgemeinen Regime Unfallversicherter eine Unfallrente und eine Alters- oder Invalidenpension, so wird die Pension gekürzt. Dagegen gilt im Spezialregime seit seiner Einführung im Jahre 1961 die umgekehrte Regel – die Alterspension bleibt erhalten und die Unfallrente wird gekürzt. Allerdings nur bis zum Ende des 65. Lebensjahrs; ab dem Monatsersten im 66. Lebensjahr ist die Unfallrente ganz geschuldet. Im Anfang 1999 in Kraft getretenen Übergangsregime für die Pensionen im öffentlichen Dienst allerdings wurde die Regel, eine Pension zu kürzen, wenn sie gleichzeitig mit einer Unfallrente bezogen wird, festgeschrieben. Jüngere öffentlich Bedienstete sind Unfallversicherten im allgemeinen Regime damit seither so gut wie gleich gestellt.

Weil das so ist, sah bereits der Wirtschafts- und Sozialrat in seinem Sondergutachten 2001 keinen Grund mehr, das Spezialregime beizubehalten. Und verwies noch darauf, dass die CFL seit jeher der allgemeinen Unfallversicherung angehören und selbst für ihre Mitarbeiter mit dem parastaatlichen „Eisenbahnerstatut“ Beiträge in die Risikoklasse „Transport par route, par voie fluviale ou maritime ainsi que par voie ferrée de personnes ou de marchandises“ entrichten.

Fragt sich, ob einer solchen Argumentation am Ende zuzustimmen, für die CGFP vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzungen um Laufbahnen und Gehälter eine vertretbare symbolische Niederlage wäre oder nicht. Die Staatsbeamtenkammer hatte vor einem Jahr ungefragt versucht, der Regierung Begründungen dafür zu liefern, das Spezialregime nicht etwa doch anzutasten.

Tatsächlich ist das Verhältnis des Staates zur Unfallversicherung ein besonderes. Die Unfallversicherung ist eine reine Arbeitgeber-Mutualität, in die die Betriebe je nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Risikoklasse Beiträge entrichten. Der Staat, die Gemeinden sowie die Établissements publics bilden zwar seit Einführung des Spezialregimes vor 48 Jahren  je eine Risikoklasse für sich,  zahlen aber keine Beiträge, sondern erstatten lediglich der Unfallversicherung Aufwändungen zurück, die diese für die Entschädigung verunfallter öffentlich Bediensteter hatte. Darüberhinaus trägt der Staat die Verwaltungskosten der Unfallversicherung.

Dieser Zusammenhänge wegen könne man, so die Staatsbeamtenkammer, den Staat als seinen eigenen Versicherer ansehen, der von der Unfallversicherung lediglich Leistungen kauft. Außerdem habe der öffentliche Dienst eine Unfallversicherung eigentlich gar nicht nötig: Eingeführt worden sei sie unter anderem auch, damit eine Entschädigung Verunfallter nicht an den Grenzen der Zahlungsfähigkeit des Arbeitgebers scheitere. Doch „le risque de l’insolvabilité de l’État-patron n’est pas donné“. 

Am Ende könnten es tatsächlich juristische Konstruktionen dieser Art sein, die die Regierung gegenüber dem Staatsrat ins Feld führt, um die Beibehaltung des Spezialregimes zu erreichen. Diese Hintertür hat der Staatsrat immerhin offen gelassen: Statt gleich einen formellen Einwand gegen das Unfall-Spezialregime zu machen, hat er um schlüssige Begründungen gebeten, es nicht abzuschaffen. Wie für die CGFP, steht auch für die Regierung einiges auf dem Spiel. Zum einen in budgetärer Hinsicht: Würde der Staat bei der Übernahme des Unfall-Spezialregimes ins allgemeine Regime zum Beitragszahler, entstünden ihm Fixkosten auf der Lohnmasse seiner Bediensteten. Wie viel, will die Generalinspektion der Sozialversicherung kurzfristig berechnen, und dann wird das Verdikt des Staatsrats Thema im Regierungsrat. Die Staatsbeamtenkammer hat in diesem Punkt schon vor einem Jahr den taktischen Schulterschluss mit der Privatwirtschaft gesucht: Ein Beitragszahler Staat könnte aus „raisons budgétaires bien évidentes“ entscheiden, „andere staatliche Zuwendungen“ an die Unfallversicherung zu kürzen, warnte sie. In anderen Worten: Die Verwaltungskosten der Unfallversicherung müssten die Arbeitgeber dann wohl selber tragen.

Doch während der Staatsrat sicherlich nicht angesichts von Haushaltsbedenken einer Ausnahme vom Gleichheitsgebot zustimment, wäre die Abschaffung des Spezialregimes für die Regierung aus noch einem Grund problematisch: Die Regeln für Entschädigungszahlungen aus der Unfallversicherung sind so eng verzahnt mit den Krankengeld-Bestimmungen, dass die Einführung eines Unfall-Einheitsregimes ohne Weiteres die Frage aufwerfen könnte: Warum den öffentlichen Dienst nicht doch im Einheitsstatut aufgehen lassen? Schon eine Neuauflage dieses Diskurses aber könnte die CGFP kaum anders als den Kriegsfall verstehen, und das könnte alle Pläne der Regierung für Reformen im öffentlichen Dienst für längere Zeit durchkreuzen.

Peter Feist
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