Michael Mann führt wieder Regie! Mit Ferrari kehrt der Ausnahmekünstler des amerikanischen Films auf die Kinoleinwand zurück. Dokumentarische Bilder vermischen sich mit fiktionalen Großaufnahmen des Gesichts von Adam Driver als Enzo Ferrari. Mit dieser Exposition, der Einheit aus dokumentarischem Material und dem Fiktionsstatus der Bilder ist das künstlerische Programm des Films angekündigt, die wahren Begebenheiten fiktional zu überhöhen. Dann die Zwischentafel: 1957. Die Jahresangabe signalisiert alle Konzentration. Michael Mann ist wenig interessiert an einem herkömmlichen Biopic. Ihm geht es um das einschneidende Krisenjahr, das für das Automobilunternehmen Ferrari zum Prüfstein wird.
Enzo Ferrari hat das Unternehmen mit seiner Frau Laura (Penélope Cruz) 1947 in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegründet. Ihr gemeinsamer Sohn Dino starb 1956 an einer Muskelkrankheit, was die Ehe an den Endpunkt geführt hat. Nur noch die gemeinsame Geschäftsleitung bindet die beiden aneinander. Enzo hat indes eine neue Familie gegründet: Lina Lardi (Shailene Woodley) schenkte ihm mit Piero einen zweiten Sohn, doch Enzo zögert ihn rechtmäßig anzuerkennen, ihn seinen Namen tragen zu lassen. 1957 ist auch das Jahr, in dem der Druck rivalisierender Rennställe – Jaguar, Maserati, Fiat, Ford – auf die Gesellschaft steigt, derweil Enzo Ferrari vor dem finanziellen Ruin steht. Er muss Partner finden, um weiterhin geschäftsfähig zu bleiben. Ein Triumph beim legendären Langstreckenrennen Mille Miglia kann den Ausweg aus der Krise bedeuten.
Allein der Blick auf diesen zeitlichen Zuschnitt verdeutlicht, worum es Mann in seinem neuen Film (basierend auf dem Buch von Brock Yates Enzo Ferrari: The Man, The Cars, The Races, The Machine) geht: um dramatische Essenz. Alles soll sich da in der Kulmination entfalten – meisterlich, elegant, außerordentlich. Michael Mann will immer wieder aufs Neue künstlerisch bis zum Äußersten gehen und kreative Grenzen überschreiten. Dabei immer wieder neu entdecken, was ihn fasziniert an dem Stoff, den er bearbeitet, und erleben, welche kreativen Visionen er in sich fühlt. Michael Mann ist wohl jemand, den man als Filmautor – in seiner engsten Definition – beschreiben kann. Es ist beachtlich, wie er rund zehn Jahre nach seinem letzten Kinofilm Blackhat mit der Biografie Enzo Ferraris auch augenscheinlich einen Michael-Mann-Film geschaffen hat, der so sehr die vision du monde des Regiekünstlers atmet, dass man meinen möchte, Ferrari stamme aus einem anderen Jahrzehnt. Nicht zuletzt, weil der Film mit allen Oberflächenreizen des Sportfilms aufwartet: packende und synästhetisch hochwertige Rennfahrten, glänzender roter Stahl, eine Kamera, die diese sinnlichen Qualitäten äußerst verführerisch einfängt. Diese zu zelebrieren, ohne sie zu affirmieren, das war seit jeher Teil von Manns Filmkunst. Doch darunter ist alle genretechnische Narrativik ausgeschaltet. Keine Resolution, keine Transparenz. Ferrari ist modernistisches Gegenkino in all seiner Komplexität, Ambivalenz, Vieldeutigkeit und Unergründbarkeit – ganz in den Mustern des klassischen Erzählkinos gehüllt. Zwar dominieren die Aktionen, aber es sind die Affekte, die dem ganzen Sinn verleihen. Das Gegensätzliche zusammenzuführen, immer wieder, das treibt Michael Mann an.
Die Räderwerke des Systems
Das Familienimperium Ferrari steht vor dem Bankrott. Die Buchhaltung rät Enzo, die Verkaufszahlen zu steigern, doch er ist daran überhaupt nicht interessiert. Er entwirft und perfektioniert Autos, um möglichst viele Rekorde zu erzielen. „Jaguar fährt Rennen, um Autos zu verkaufen“, meint Enzo, und fügt hinzu: „Ferrari verkauft Autos, um Rennen zu gewinnen.“ Da sind sie, diese Äußerungen, die den verqueren Romantizismus von Manns Helden offenlegen. Sie halten an Idealen fest, die in einer Zeit des rasanten Wirtschaftswachstums nicht mehr haltbar sind. Stilistisch betrachtet, ist Ferrari stärker entfernt von früheren Michael-Mann-Filmen. Obwohl er überaus bildbetont inszeniert ist, findet man doch nicht die bekannten bildgestalterischen Mittel, die sehr präzise Farbpalette, die betonte HD-Ästhetik, die den Filmemacher in Ali und Collateral interessierte. Ferrari ist weniger expressionistisch in seiner Formgebung als Manhunter, Heat oder Blackhat. Seine Bildebene ist an die Renaissance oder noch die frühbarocke Malerei angelehnt, mit einer Lichtsetzung, die Caravaggio nachempfunden ist.
Es ist diese Form des „überhöhten Realismus“, mit der Mann die Geschichte erzählt: Enzo Ferrari, der „Commendatore“, wie er von seinen Untergebenen genannt wird, bestimmt jedes Detail seines Lebens und seiner Arbeit; er ist der meisterliche Ingenieur, der sich die Zeit unterwürfig machen und aus ihr Kapital schlagen will. Doch dabei erkennt er nicht, wie er, die Gesetze des Marktes ignorierend, von der Zeit selbst geschlagen wird. So überaus ausschweifend die aktionsgeladenen Rennfahrtszenen sind, so überaus ergreifend die immer kälter werdende Beziehung zwischen Enzo und Laura eingefangen ist, so beiläufig und flüchtig legt Mann die Essenz seiner Erzählung um das Autounternehmen offen. Es ist dieser überaus klarsichtige Moment, etwa zur Hälfte der Laufdauer, der den Blick auf das Gegenwärtige, auf ein Gesamtbild eröffnet. Nur flüchtig, bei einem Opernbesuch, geht Mann aufs Ganze: Das Konkurrenzunternehmen Maserati geht mittlerweile lukrative TV-Deals ein. 1957 erlebt das Fernsehen eine Hochphase. Schnelle Fahrzeuge allein reichen nicht mehr, um geschäftsfstüchtig zu bleiben. Ferrari wird überholt, nicht auf der Rennbahn, noch nicht einmal so sehr von der Konkurrenz, sondern vom kapitalistischen Zeitgeist der Moderne, der sich stärker auf die schnelllebige Kommunikation und Information in einer neuen Phase der televisuellen Vernetzung ausrichtet. „Das Spiel ändert sich“, heißt es da. Dass es die Fahrer sind, die Enzo, gemäß dem „Saturn, der seine Kinder verschlingt“, opfert, oder noch die Fabrikarbeiter, die den schmerzlichen Leistungsdruck am meisten spüren, wird indes nie vordergründig. Manns Seele aber liegt darin: sein Misstrauen gegenüber dem sozialen Lauf der Dinge, die Skepsis gegenüber der kapitalistischen Ideologie. Enzo Ferrari ist der Kontrollmensch, er bestimmt jedes Detail seiner Autos, jedes Triebwerk ist seiner effizienten und auf Erfolg ausgerichteten Arbeitsweise unterworfen, dabei ist er blind für die größeren Sinnzusammenhänge: Die Räder der Zeit und der Wirtschaftlichkeit des Motorsports sind größer als er, er ist vielmehr ein kleines Rad in deren Getriebe. Das macht diese Figur für Mann so „operatic“1, opernhaft, ja: tragödienfähig. Dafür: Die Opernszene. Mann verdichtet dieses Moment virtuos zu den Klängen von Giuseppe Verdis La Traviata2, die den dritten Akt des Films einleitet. Die Vergangenheit bricht sich da in die Gegenwart Bahn und deutet auf die Zukunft hin. Großaufnahmen werden zu Momenten der Spiegelung, der Introspektion, der Erinnerung, ganz intimistisch und doch überhöhend, die Fallhöhe herausstellend.
Das Dilemma
„Ferrari“ – das ist heute vielleicht ausschließlich ein Markenname. In allen Fällen ist es ein Nachname, er steht für die Gesamtheit dieses Familienunternehmens. Doch wie ist dieses Familienunternehmen noch zu begreifen, wenn die Ehe in Trümmern ist und das illegitime zweite Familienverhältnis nicht öffentlich gemacht werden soll? Das ist ein zentrales Motiv in Ferrari, doch mehr noch steht dahinter die existenzielle Grundfrage, die alle Filmhelden Manns umtreibt: Wie kann die private Zuwendung für sie haltbar sein, wenn in ihnen eine existenzielle Veranlagung liegt, die sich nur in deren Professionalität erfüllt? Dieses Spannungsverhältnis eröffnet Ferrari gleich zu Beginn: Ehe Enzo ins Auto steigt, um zur Arbeit zu gelangen, schiebt er es an, lässt es einen Hang hinabrollen, bevor er den Motor aufheulen lässt und das Gaspedal durchdrückt. Man merkt diesem Enzo Ferrari das existenzielle Adrenalinbedürfnis förmlich an, er braucht den Motorsport, um zu sein. Der Wagen hat indes keine Panne, Enzo will lediglich seine Familie nicht aufwecken – es ist der Kompromiss, den er eingehen muss. Jean-Baptiste Thoret erklärt im Rückblick auf die gesamte Karriere des Filmemachers, dass alle Mannschen Figuren „an einer problematischen Beziehung zu ihren jeweiligen existenziellen Programmen“ leiden, in dem Sinne, dass ihre existenziellen Bestrebungen „in der Regel nicht mit dem Leben vereinbar sind.“3
Mithin fokussiert Mann neben seinem männlichen Protagonisten auch seine Filmheldin Laura. Mit ihr eröffnet der Film, wie eine einstige Liebe umgewandelt wird in einen reinen Geschäftsvertrag. Ein Abhängigkeitsverhältnis erwächst aus Arbeitsteilung, Schecks, eidesstattlichen Erklärungen. In Ferrari ist dieses existenzielle Grundproblem noch viel komplexer angelegt. Er teilt sein Privatleben und die Firmenleitung mit seiner Frau, lässt sein vitales Programm mit dem professionellen in eins fallen. Das ist das zentrale Dilemma Enzos, der Kernkonflikt, der ihn im Innersten ausmacht. In seinem zweiten Sohn Piero sieht Enzo seinen Nachfolger, er könnte das Imperium weiterführen. In einem seiner stillen Momente, sehen wir Enzo zusammen mit Piero am Arbeitstisch: Der Vater erklärt dem Sohn, wie ein Motor funktioniert. Sichtlich gerührt vom genuinen Interesse seines Sohnes, gleiten Enzos Finger über die Pläne. Wenn dieser Moment zu den schönsten und wichtigsten in Manns Karriere zählt, dann, weil er seinen männlichen Helden zum ersten Mal, wenn auch nur andeutungsweise, gestattet, glücklich zu sein und zu sich selbst zu kommen: Hier finden die professionelle und die private Ebene zueinander, Ferraris obsessive Leidenschaft für seine Arbeit findet einen Nährboden bei seinem Sohn, vermag es, die familiäre, vitale Dimension seines Lebens zu durchdringen und mit ihr zu koexistieren – daran scheiterten bisher noch alle Filmhelden Michael Manns. Doch: Die Aussicht das Unternehmen mit dem Sohn in die Zukunft zu führen, hängt von der Einwilligung Lauras ab. Die Enthüllung von Pieros Existenz gefährdet somit direkt die von Enzo erdachten Maßnahmen zur wirtschaftlichen Rettung, weil sie mit der Emotionswelt seiner gescheiterten Ehe in Konflikt geraten. So verzwickt die Story, so groß die Gefühlsausbrüche. Der Konflikt unlösbar.
Form ist Inhalt
In Ferrari wird wahrscheinlich am deutlichsten, was in Manns gesamter Filmografie das oft missverstandene Schaffensprinzip ist. Als Maserati gerade dabei ist, einen von Ferrari aufgestellten Rekord zu brechen, präsentiert Mann eine der aufschlussreichsten Filmmomente seiner Karriere: Enzo und einige seiner Mitarbeiter sitzen in einer Kirche nahe der Rennstrecke, der Gottesdienst wird abgehalten. Während der Priester erklärt, dass Jesus, wenn er zu ihrer Zeit geboren worden wäre, eher mit Metall als mit Holz gearbeitet hätte, starren die Gläubigen auf ihre
Stoppuhren, nachdem sie den Schuss gehört haben, der den Start des Maserati-Fahrers ankündigt. Die Parallelmontage verbindet das Zeremoniell der Wandlung mit dem Test auf der Rennstrecke. Materie und Transzendenz sind ineinander verbunden, so auch Form und Inhalt des Films. Als Enzo, vor den Plänen eines Motors, seinem Sohn erklärt, wird diese Verbindung zwischen Kunst und Materie wieder evoziert und mit einer der eindringlichsten Dialogzeilen des Films unterstrichen. Enzo meint: „Wenn etwas gut funktioniert, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es schön ist.“ Und schön ist Ferrari.