Am 27. Juni wird öffentlich, wie die Wirtschaft bis 2030 weiter um drei Prozent im Jahr wachsen könnte, ohne dass es zum Chaos im Lande kommt. Die Abgeordneten kennen die Pläne seit Mittwoch

Was für ein Luxemburg

d'Lëtzebuerger Land vom 23.05.2014

Siebeneinhalb Stunden nahmen eine Ministerin, drei Minister und ein Staatssekretär sich am Mittwoch Zeit, um in der Abgeordnetenkammer die vier Plans sectoriels zur Raumplanung vorzustellen. Darin steht, wo in den kommenden Jahren welche Verkehrswege angelegt werden sollen, wo es neue Gewerbegebiete geben und wo prioritär neuer Wohnraum entstehen soll. Und wie all das zueinander passen kann, ohne dass es in dem kleinen Land mit dem knappen Platz zulasten von Umwelt und Gesundheit geht.

Es ist der erste Versuch, Raumplanung für ganz Luxemburg nicht nur auf dem Papier zu betreiben, sondern sie auch zu reglementieren. Denn gesprochen wird über Landesplanung schon seit den Siebzigerjahren. Und schon 1999 wurde unter dem damaligen LSAP-Landesplanungsminister Alex Bodry ein Programme directeur geschrieben, in dem das angedacht wird, was die vier Pläne über Transportwege, Wohnungsbau, Gewerbegebiete und schützenswerte Landschaften nun konkretisieren: Wachstum soll sich in Zentren verschiedener Ordnung konzentrieren, damit das Land nicht zersiedelt wird. Das aber ist bisher geschehen. Die Einwohnerzahl zum Beispiel wuchs von 339 000 Mitte der Siebzigerjahre auf 549 000 derzeit. Und laut Europäischer Umweltagentur ist Luxemburg der EU-Staat mit dem am stärksten „fragmentierten“ Territorium.

Was genau in den Plänen steht, ist noch nicht öffentlich. Nur die großen Linien hat die Regierung über die Webseite des Nachhaltigkeitsministeriums publik gemacht (www.dat.public.lu/actualites/2014/05/21_PresentationChambre_4PS/index.html). Die Abgeordneten erhielten am Mittwoch sämtliche Informationen, aber auch die sind noch nicht definitiv. Am 3. Juni werden die Schöffenräte der 106 Gemeinden eingeweiht, und über deren Zustimmungen, Hinweise und Proteste wird das Kabinett noch diskutieren, ehe am 27. Juni die Endfassung des ganzen Pakets veröffentlicht wird und die „Konsultationsprozedur“ beginnt. Dann können über das staatliche Geoportail die Karten zu jedem Plan bis in ihre Einzelheiten eingesehen werden und die Bürger haben 45 Tage Zeit, um bei ihrer Gemeinde ihre Meinung zu den Plänen zu hinterlegen. Die Kommunen haben vier Monate Zeit zum Einspruch. Anschließend darf noch mehr als anderthalb Jahre lang debattiert werden – zwei Jahre hat die Regierung für die Konsultation veranschlagt. Nichts sei „in Stein gemeißelt“ betonte der für die Landesplanung zuständige Nachhaltigkeitsminister François Bausch (Grüne) am Mittwoch; die Regierung wünsche sich im Gegenteil einen „extrem partizipativen Prozess“. Ist der abgeschlossen, werden die Pläne über großherzogliche Verordnungen bindend. Danach haben die Gemeinden vier Jahre Zeit, um alle Vorgaben in ihre Generalbebauungspläne zu übernehmen. Fix und fertig wird das neue Regelwerk damit Ende Juni 2020.

Das klingt nach sehr viel Zeit, wie auch der ehemalige CSV-Landesplanungsminister Jean-Marie Halsdorf am Mittwoch leicht vorwurfsvoll fand. Doch manche der neuen Regeln treten sofort nach der Publikation der Pläne in Kraft, zum Beispiel die über die Korridore jener Verkehrswege, die bis 2020 mit „Priorität“ und einem Finanzaufwand von insgesamt über zwei Milliarden Euro verwirklicht werden sollen (siehe „Verkehrswege bis 2020“). Oder Übergangsregeln für ein „Parkraummanagement“, um schon vor 2020 möglichst zu verhindern, dass eine Gemeinde ihren Nachbarn Firmen abwirbt, indem sie mit viel mehr Parkplätzen pro Quadratmeter Bürofläche winkt, wie es das Boom-Dorf Leudelingen jahrelang tat.

Der Plan sectoriel Transports schreibt das bereits 2012 vom damaligen CSV-Infrastrukturminister Claude Wiseler vorgestellte Mobilitätskonzept Modu fest: Priorität für den öffentlichen Transport mit der Eisenbahn als Rückgrat, Bussen und der Tram als Zubringer, und über Land verteilten Umsteigeplattformen und Park-and-Ride-Plätzen. Nur die Prioriäten haben sich geändert. Die Hauptstadt-Tram soll schon 2020 bis nach Howald und zur Cloche d’Or fahren. Dafür wird auch die Nationalstraße N3 – die Route de Thionville in Luxemburg-Stadt und Hesperingen – schon eher zu einem Boulevard urbain mit Busspur in der Mitte des Hesper Bierg umgebaut. Die Arloner Autobahn wird zwar nicht auf zweimal drei Spuren erweitert, aber die nach Metz ab dem Gaspericher Kreuz: Der am Logistikzentrum und der multimodalen Plattform in Bettemburg/Düdelingen zu erwartende stärkere LKW-Verkehr verlangt es. Zurückgestellt bleiben dagegen weiterhin verschiedene Umgehungsstraßen, die Wiseler noch mit Vorrang bauen lassen wollte; etwa die von Kehlen, Hosingen und Ettelbrück. Stärker als Wiseler will die neue Regierung unter grünem Einfluss den Radverkehr fördern: Um die kommunalen Radwege zu einem nationalen Netz zu verbinden, das nicht nur auf Freizeit-Radfahrer angepasst ist, sondern Alltagsverkehr ermöglicht, sollen zwischen wichtigen Gemeinden „Staats-Radwege“ entstehen.

Als „Gegengewicht“ zu den neuen Infrastrukturen ist der Plan sectoriel Paysages gedacht, der vier verschiedene „Zonen“ definiert. Landschaftsräume wie das Mamertal, das Müllerthal oder die alten Tagebaue im Süden gelten als „grands ensembles“. Dort würden alle Eingriffe, die zu einer weiteren Zersiedelung führen könnten, verboten. Das soll auch im „Grüngürtel“ zwischen Hauptstadt-Großraum und dem Süden so sein, damit beide Ballungsrüme nicht etwa zu einem zusammenwachsen, und der Urbanisierung Grenzen setzen sollen auch „grüne Zwischenräume“ zwischen den großen Gemeinden.

Über das ganze Land soll schließlich ein „ökologisches Netz“ ausgeworfen werden: Es soll Verbindungen schaffen zwischen besonders wichtigen Naturräumen und verhindern, dass Pflanzen und Tiere derselben Art durch Zersiedelung voneinander getrennt werden. Andernfalls kommt es zu einem Phänomen, das Evolutionsbiologen „genetische Drift“ nennen: Weil kein Austausch der Genpotenziale mehr stattfindet, erleiden diese Lebewesen einen Evolutionsnachteil und können früher aussterben.

Bestimmte Aktivtäten würden auch in den vier Zonen erlaubt sein. Die Verkehrswege aus dem Transportplan dürfen angelegt werden, Feld- und Radwege ebenso, und wie Umweltstaatssekretär Camille Gira betonte, sei die Zonierung keine Einschränkung der Landwirtschaft, sondern es würden Flächen für die Landwirtschaft gerettet. Die vorige Regierung hatte in dem Landschaftenplan noch eine speziell für die Lanfwirtschaft reservierte Zone definieren wollen. Das blau-rot-grüne Kabinett hat die Idee verworfen. Die Kriterien für die Zone seien derart willkürlich und „ohne wissenschaftliche Basis“ definiert gewesen, dass man mit einer Prozessflut von Grundstücksbesitzern hätte rechnen müssen, erklärte Gira am Mittwoch im Parlament. Daraufhin sahen die Abgeordneten der CSV, die die Agrarzone ihrer Wählerschaft zum politischen Geschenk machen wollte, von weiteren Nachfragen ab.

Aber dass es um die Plans sectoriels noch politische Auseinandersetzungen geben wird, wurde dabei schon deutlich. Gestritten wird vielleicht auch noch über die Grundprinzipien hinter den Plänen. Denn beendet werden soll mit den vier Verordnungen und den dazu gehörigen Karten nicht nur der laisser-faire der letzten Jahrzehnte. Vor allem soll ein Rahmen her, mit dem Wirtschaft, Bevölkerung und Beschäftigung weiter so wachsen können wie bisher – falls es so viel Wachstum gibt. „Unser Sozialsystem beruht auf vier Prozent BIP-Jahreswachstum. Wenn der Wille da ist, auch mit zwei Prozent zufrieden zu sein, geht auch das, aber ich sehe diesen Willen nirgends“, erklärte Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP), als Gast Gybérien (ADR) wissen wollte, ob die Regierung tatsächlich davon ausgeht, dass es in Luxemburg bis zum Jahr 2030 an die 550 000 Arbeitsplätze geben könnte, wo es heute nur 380 000 sind. Die mehr als eine halbe Million Jobs entsprechen dem „höchsten“ von drei Szenarien, die das Statistikinstitut Statec für denkbar hält. Und, ja: Darauf setzt die Regierung in der Tat, und daran würde sich auch die Ausweisung von 698 Hektar neuer Fläche in nationalen und regionalen Gewerbegebieten orientieren. Die „disponible“ Fläche nähme damit auf fast 1 800 Hektar zu; heute liege sie bei 1 090 Hektar.

Dass heute schon anderthalb Mal mehr „disponibel“ sein soll, als man noch ausweisen will, da doch gleichzeitig immer wieder über „knappe“ Flächen geklagt wird, ist interessant. Doch wie Schneider erklärte, soll mit dem vergrößerten Angebot auch ein Preisverfall bei den Gewerbeflächen ausgelöst werden. Und noch ist nicht bekannt, was zu den 1 090 „verfügbaren“ Hektar gehört: Der Plan sectoriel Zones d’activités économiques soll sich anscheinend, wie schon der 2008 präsentierte Vorentwurf, nicht auf die Flächen in und um die Hauptstadt und nicht auf Belval beziehen. Vor allem, was auf dem Kirchberg, im Ban de Gasperich oder um den Flughafen passiert, fiele dann nicht in die nationale Bilanz.

Das ist nicht nur ein Detail am Rande, sondern ein wesentlicher Unterschied zu dem vor zehn Jahren mit viel PR-Aufwand vorgestellten IVL-Konzept. Auch das IVL nahm schon vier Prozent jährliches Wirtschaftswachstum an, damit die drei Jahre vorher am Rentendësch beschlossenen Rentenerhöhungen sich nicht gleich als langfristig unfinanzierbar herausstellen sollten. Das IVL enthielt jedoch sehr konkrete Entwicklungsentwürfe, und es stellte die Politik vor die Wahl, den Jobzuwachs entweder durch mehr Grenzpendler oder durch mehr Einwohner realisieren zu lassen. Und es empfahl, in jedem der beiden Szenarien neue Arbeitsplätze in erster Linie im Süden anzusiedeln und nicht im Hauptstadt-Großraum, in Letzterem dagegen vor allem neue Wohnungen zu bauen.

Doch von diesem IVL-Grundsatz hatte die Politik sich schon kurz nach den Wahlen von 2004 verabschiedet, als sie dem Ban de Gasperich grünes Licht gab, und heute soll, wie es aussieht, mobilisiert werden, was sich mobilisieren lässt, ohne dass Chaos ausbricht im Lande. Das Flächenangebot wird erhöht, spezialisierte Zonen für Biotech, Telekom und Logistik werden definiert, und regionale Gewerbegebiete werden auch für den Einzelhandel geöffnet; die vom „Typ 1“ allerdings nur, falls dort ein Handwerksbetrieb ansässig wird, der seine Produkte vor Ort verkaufen will. Daneben wird, das ist ebenfalls neu, Gemeinden erlaubt, bis zu zwei Hektar an kommunalen Gewerbeflächen neu auszuweisen, und falls es die Erweiterung eines Unternehmens verlangt, bis zu drei Hektar. „Was ja eigentlich nicht IVL-konform ist“, wie Ex-Minister Halsdorf anmerkte.

„Ausweisen ist nicht dasselbe wie bauen“, sagte Camille Gira, als die Abgeordneten bei der Frage angekommen waren, mit welchem Ziel der Staat eigentlich plane. Und François Bausch ergänzte, die Diskussion um die Plans sectoriels sei der „Zukunftstisch“, den die Grünen immer gewünscht hatten. Die Frage: „Wéi ee Lëtzebuerg wëlle mer?“ dürfe in den kommenden beiden Jahren ausdrücklich gestellt werden. „Und wenn sich ergibt, dass die Mehrheit der Bevölkerung weniger Wachstum will, dann ändern wir die Pläne!“, kündigte Bausch an.

Ob es dazu kommen muss, wenn die Bevölkerung in den nächsten beiden Jahren nicht nur mit dem „Staatshaushalt der neuen Generation“ konfrontiert wird, sondern auch mit Steuererhöhungen, sozial selektiven Familienzulagen und vielleicht höheren Beiträgen zur Pflegeversicherung, ist nicht so sicher. Aber es wäre wohl unfair, der Regierung zu unterstellen, sie wolle vor diesem Hintergrund ihre weiteres Wachstum erlaubende Landesplanung als alternativlos präsentieren. Dazu sind die Wachstumsaussichten zu unsicher, und es könnte noch an anderen politischen Fronten Auseinandersetzungen um die Plans sectoriels geben.

Denn der Ansatz hinter den Plänen lässt sich so zusammenfassen: Gibt es tatsächlich so viel Wachstum in den nächsten zehn bis 15 Jahren, ist man vorbereitet und läuft der Entwicklung nicht mehr hinterher. Gibt es weniger Wachstum, sind die Annahmen in den Plänen trotzdem wahr. Und gibt es sehr viel weniger Wachstum, widmet man ausgewiesene Flächen einfach wieder um. Immerhin: Schon so viel professioneller Pragmatismus wäre hierzulande ein Fortschritt. Camille Gira hatte schon Recht, als er am Mittwoch meinte, im Saarland lebten auf einer kleineren Fläche doppelt so viele Menschen wie in Luxemburg, „und trotzdem sieht es dort nicht so aus, als gehe es drunter und drüber“.

Aber wenn Wirklichkeit werden soll, was in den vier Planentwürfen vorweggenommen wird, und zum Beispiel der Wohnungsbau auf 43 „prioritäre“ Gemeinden konzentriert wird, dann sind beim aktuellen System der Gemeindefinanzierung auch Auseinandersetzungen um „reiche“ und „arme“ Gemeinden und den kommunalen Finanzausgleich programmiert. Dazu könnte noch beitragen, dass die Maßnahmen, die zum Wohnungsbau geplant sind, zum Teil schon kurzfristig wirken sollen.

Besonders kurzfristig sollen, so Wohnungsbauministerin Maggy Nagel (DP) am Mittwoch, „drei bis fünf“ so genannte projets d’envergure realisiert werden. Wo, wird am 27. Juni publik. An diesem Tag aber beginnt auch eine Zwölfjahresfrist, in der die „komplementären“ Gemeinden, die weder „Zentren“ sind, noch in Ballungsräumen liegen, höchstens um zehn Prozent wachsen dürfen. Die prioritären hingegen können wachsen, wie sie es vermögen: Weder gilt eine Minimalvorgabe, noch eine Obergrenze.

Wozu das in der Praxis führen wird, bleibt abzuwarten. Am Mittwoch wandte der ehemalige CSV-Wohnungsbauminister Marco Schank ein, die vorige Regierung habe auch in den „prioritären“ Gemeinden dem Bevölkerungszuwachs, von dem aus auf einen Wohnungszuwachs geschlossen werden kann, ein Limit setzen wollen. So sollte verhindert werden, dass eine Gemeinde womöglich nicht nachkommt mit dem Bau von Grundschulen oder Kinderkrippen, falls ihre Bevölkerung zu schnell zunimmt.

Dass dieser Passus aus dem Wohnungsbauplan der neuen Regierung verschwand, liegt daran, dass für den Fall, eine Gemeinde erreichte ihre Vorgaben nicht, die als Wohnbauland ausgewiesenen Grundstücke wieder zurückgestuft werden müssten, dabei jedoch an Wert verlören. Und seit dem Urteil des Verfassunsggerichts vom 6. Oktober vergangenen Jahres steht fest, dass dieser Wertverlust dem Grundstücksbesitzer von der Gemeinde erstattet werden muss. Schätzungsweise 1 000 Hektar hätte die vorige Regierung an Wohnbauland zu viel veranschlagt, hielt Innenminister Dan Kersch (LSAP) Schank und dem früheren Landesplanungsminister Claude Wiseler vor. „Bei Durchschnittspreisen von 15 000 Euro pro Ar wäre das eine Katastrophe für die Gemeinden gewesen.“ Und so soll von bindenden Vorgaben jeglicher Art an die großen Gemeinden zunächst einmal Abstand genommen werden.

Ob die Landesplanung damit ambitioniert genug ist, wird zu debattieren sein, wenn alle Texte und Karten auf dem Tisch liegen. Schon jetzt ist die Regierung überzeugt, mit ihren Entwürfen zur Simplification administrative beigetragen zu haben: Sämtliche Pläne und alle Vorhaben und Vorgaben darin haben eine Strategische Umweltprüfung absolviert, wie sie das EU-Recht vorschreibt. Was an Projekten realisiert werden soll, lässt sich dadurch rascher umsetzen. Gar nicht zu reden davon, dass das Expertenbüro den vier Plans sectoriels auch attestiert hat, alles in allem seien sie gut für die Umwelt. Selbst wenn die Wirtschaft Jahr für Jahr um drei Prozent wüchse.

Peter Feist
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