Der Gender Identity Development Service (Gids) der Tavistock-Klinik in Nordlondon wird im Frühjahr 2023 wegen schwerwiegender Mängel auf Anordnung der staatlichen Gesundheitsbehörde NHS schließen. Der Gids wurde 1989 eröffnet und war Englands einziges Zentrum innerhalb des öffentlichen Gesundheitssystems, das auf die Behandlung junger Menschen mit Geschlechtsdysphorie spezialisiert war. Die Entscheidung ist unter anderem das Ergebnis eines vorläufigen Berichts einer seit 2020 laufenden unabhängigen Untersuchung über die in England verfügbaren Dienste und Behandlungszentren im Bereich der Geschlechtsidentität für Kinder und Jugendliche.
Nach scharfer Kritik an der Klinik sollen nun neue „familennahe regionale Zentren“ entstehen, die „den holistischen Bedürfnissen von verletzlichen Patient:innen“ nachkommen sollen. Diese sollen zunächst in Londons berühmtem Great Ormond Street Kinderkrankenhaus, im Alder Hey Krankenhaus in Liverpool und in der Kinderklinik in Manchester eingerichtet werden.
Die Entscheidung wurde offiziell von allen Seiten begrüßt, nicht zuletzt auch von der Tavistock-Klinik selbst, deren Warteliste für Behandlungen im Gids innerhalb des letzten Jahrzehnts von 136 in 2010 auf knapp 5 000 im Jahr 2021 angewachsen war. Laut dem vorläufigen Untersuchungsbericht, der im Februar 2022 herauskam, wurde die Klinik diesem Andrang nicht mehr gerecht. Oft mussten junge Patient:innen bis zu zwei Jahre auf einen Termin warten.
In einem Schreiben der Kinderärztin und ehemaligen Präsidentin des britischen Kinderärzt:innenverbunds, Dr Hilary Cass, die die Untersuchung leitete, hieß es, der Gids stelle für junge Menschen ein „beachtliches Risiko der Beeinträchtigung ihrer psychischen Gesundheit“ dar und könne den Patient:innen Schaden zufügen.
Fragen zur Methodik der Klinik wurden vor allem nach einem Gerichtsfall gestellt. Keira Bell, heute 25, besuchte im Alter von 15 Jahren die Klinik. Ihr wurden ein Jahr später Pubertätsblocker und danach Testosteron verschrieben. Im Alter von 20 Jahren unterzog sie sich einer Doppelmastektomie. Später bedauerte sie diese Schritte. Bell gewann zunächst vor Gericht, verlor jedoch in zweiter Instanz. Im Urteil des Berufungsgericht hieß es, dass Richter:innen nicht in ein klinisches Expert:innenurteil eingreifen dürften. Bell, die heute als lesbische Frau lebt, bemängelte, dass das sie behandelnde Team im Tavistock ihr bei ihrer Entscheidung zu einer Transition und einer Hormontherapie nicht genug Fragen gestellt habe. Der BBC erklärte sie dass sie, als sie jung war und sich Fragen zu ihrer sexuellen Identität stellte, einfach nur eine psychologische Therapie benötigt hätte.
Schon vor einigen Jahren hatten Angestellte der Tavistock das Vorgehen der Klinik in Frage gestellt. In einem internen Bericht beschrieb der einst in der Klinik arbeitende Psychiater und Psychoanalytiker David Bell, dass die Klinik unzulänglich arbeite. Statt darauf einzugehen, habe die Klinik versucht, ihn und andere mit Disziplinarverfahren und dem Vorwurf der Transphobie zum Schweigen zu bringen. Im Jahr 2020 erklärte die staatliche Prüfstelle von Diensten im Gesundheitsbereich Care Quality Commission (CQC) das Gids nach eigener Untersuchung offiziell als unzureichend.
Dr. Hilary Cass stellt in ihrem Zwischenbericht fest, dass die Klinik weder wichtige Daten zu ihren Patient:innen aufnahm, noch in der Lage war Veränderungen im Patient:innenprofil zu erklären. Einerseits gebe es beim medizinischen Fachpersonal keinen Konsens darüber, was genau die Diagnose „Geschlechtsdysphorie“ bedeute, andererseits nehme diese Diagnose keine Rücksicht auf Unterschiede beim Alter oder beim kulturellen Hintergrund, auf psychologische Bedürfnisse oder wie gefestigt eine von Kindern und Jugendlichen angegebene Selbstidentifikation sei. Eine einheitliche Ursache für „Geschlechtsdysphorie“ sei „sehr unwahrscheinlich“, damit führe eine einheitliche Therapie – vor allem wenn sie „potentiell irreversibel“ sei – zu „Streit und Polarisierung“, was aber mangels einer offenen Diskussionskultur nicht in Lösungen münde, heißt es im Bericht. Viele junge Patient:innen hätten „komplexe Bedürfnisse“, die aber alle unter dem Label „Geschlechtsdysphorie“ vereinheitlicht und hormonell behandelt würden.
Für den Einsatz von Hormonblockern fehle eine klare klinische Beweislage, dass die Therapie nicht zu späteren Gesundheitsschäden führe. „Pubertätsblocker könnten zur zwischenzeitlichen oder permanenten Unterbrechung der Entwicklung des Gehirns führen“, heißt es weiter. Wie sich diese Behandlung auf den Reifeprozess auswirke, sei dabei unklar. Die Anwendung von Pubertätsblockern soll Patient:innen theoretisch Zeit geben, um über die nächsten Schritte einer möglichen Transition nachzudenken. Angestellte des Gids sollen unter Druck gestanden haben, Entscheidungen und Motive nicht zu hinterfragen und die Aussagen der jungen Patient:innen zu ihrer Geschlechtsidentität nahezu ungefragt zu akzeptieren. Die Möglichkeit anderer potentiell vorliegender Diagnosen wurde teilweise ignoriert. Der Endbericht der Untersuchung wird für nächstes Jahr erwartet.
Cass empfahl statt dem derzeitigen zentralisierten System eines von regionalen Zentren, die „von erfahrenen Kinderpraxen geleitet werden sollten, und den Fokus auf die Gesundheit von Kindern und ihrer Entwicklung legen, mit starken Verbindungen zu Diensten im Bereich der psychischen Gesundheit.“ In Zukunft dürfen Pubertätsblocker an Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren nur noch vergeben werden, wenn sie Teil eines klinischen Testverfahrens sind.
Viele in der Transcommunity glauben, dass Pubertätsblocker Leben retten können. Tatsächlich gibt es Studien, die eine starke Senkung von Depressionen und Suiziden feststellen, doch weitere Forschung, vor allem bezüglich der Langzeitwirkung, seien laut Cass notwendig. Organisationen der Transcommunity hießen robustere Behandlungszentren für Geschlechtsidentität generell willkommen. In der britischen LGBTQIA+-Zeitung Pink News begrüßten auch Eltern von Trans-Kindern die Entwicklungen und bezeugten die mangelhaften und traumatisierenden Behandlungen im Gids. Eine Mutter warnte jedoch vor einer „Überpathologisierung“ der betroffenen Menschen.