Das Tageblatt vom Mittwoch meinte es gut mit dem grünen Transportminister: François Bausch verhelfe Luxemburg zu einer „proaktiven Tram“, war der Leitartikel der Zeitung überschrieben, die im Süden viele Leser hat. Und der Editorialist lobte, endlich würden in Luxemburg „langfristige Planungsprozeduren angewandt“.
Zwei Tage vorher hatte der Minister seinen Vorschlag für eine „Express-Tram“ zwischen der Hauptstadt und Esch/Alzette publik gemacht. 2028 könne sie zwischen Luxemburg und Foetz fahren, 2035 nach Esch verlängert sein. Das ist viel Zeit für reichlich 20 Kilometer Tram-Schienenstrang entlang der Autobahn A4. In Paris sollen bis 2024 vier neue Metrolinien einer Gesamtlänger von 200 Kilometern gebaut werden, stand ebenfalls im Tageblatt vom Mittwoch zwei Seiten vor dem Leitartikel. Gut möglich, dass der eine oder andere Süd-Leser da ins Grübeln kam.
Zumal eine schnelle Direktverbindung zwischen den beiden größten Städten des Landes schon früher im Raum stand. 1999 führten die CFL eine „ligne directe entre Esch-sur-Alzette et Luxembourg, avec arrêts au P+R de Esch/Schifflange (ARBED), Foetz et Leudelange“ in ihrem Programme directeur ferroviaire pour le 21e siècle auf. Der damalige DP-Transportminister Henri Grethen erklärte sie 2002 in seinem Konzept mobilitéit.lu zu einem der „grands projets ferroviaires“.
Zwei Jahre später erschien das legendäre IVL-Konzept, für das eine zehnköpfige internationale Expertengruppe sämtliche Aspekte der Landesplanung anschaulich machte, Bevölkerungs- und Arbeitsplatzwachstum sinnvoll übers Land zu verteilen versuchte und sich das Großherzogtum als eine „polyzentrische Stadt im Landschaftsraum“ vorstellte. Auch im IVL kam die neue Strecke vor: „Eine bedeutende Rolle beim Ausbau des ÖPNV-Angebots spielt die Verbindung der Zentren untereinander, die z.B. durch den geplanten Neubau der direkten Eisenbahnverbindung Esch/Alzette-Luxemburg verbessert wird.“
Nie aber wurde es nie richtig konkret um sie. Obwohl der Süd-Politiker Henri Grethen 2003, den damaligen CFL-Generaldirektor im Schlepptau, durch seinen Wahlbezirk gezogen war und den Leuten von ihren Vorzügen vorgeschwärmt hatte, blieb das Vorhaben in mobilitéit.lu als „Basisfall plus“ stehen. Das bedeutete „Realisierung nach 2007“ und konnte mit besonderer Beachtung von „nach“ auf alles Mögliche hinauslaufen.
Verbindlicher schien erst fünf Jahre später das Avant-projet zum Plan sectoriel Transports, das im Oktober 2008 die beiden CSV-Minister Jean-Marie Halsdorf (Landesplanung) und Claude Wiseler (Bauten) mit LSAP-Transportminister Lucien Lux vorstellten: Die Escher Streck war mittlerweile zu einer „Priorität“ geworden und versprochen wurde: „l’échéance de démarrage ou de réalisation est prévue jusqu’en 2015“. Doch nicht mal der ungünstigste Fall trat ein, dass mit dem Bau erst 2015 begonnen worden wäre, sondern die Finanzkrise brach aus und die nach den Wahlen 2009 fortgeführte CSV-LSAP-Regierung legte das Vorhaben wegen Baukosten von voraussichtlich 1,2 Milliarden Euro ad acta: Wofür eine neue Bahnlinie Esch-Luxemburg bauen, wenn es schon eine gibt?
Genauso könnte man heute fragen: Wofür eine Tram-Linie bauen, wenn es bereits eine Bahnlinie gibt? Die ist im Moment zwar nicht sehr zuverlässig. Doch das wird sich spätestens 2023 bessern, wenn die neue, die zusätzliche Strecke zwischen Hauptstadt und Bettemburg fertig sein soll. Dann wird sich vielleicht sogar bei den CFL kaum noch jemand erinnern, dass 2017 ernsthaft erwogen wurde, Züge nach Esch statt im 15-Minuten-Takt vielleicht alle 20 Minuten fahren zu lassen, weil sie dann auf den überlasteten Gleisen der derzeit einzigen Beetebuerger Streck pünktlicher wären.
Versucht der grüne Transportminister am Ende nur einen Wahlkampfcoup im Süden zu landen? Immerhin sagte er am Montag selber, sein Vorschlag sei kein „Projekt“, sondern nur die Vorstufe dorthin. Die nächste Regierung könne es weiterverfolgen, er schaffe die Voraussetzungen dafür. Und weil jedes Jahr im Juli eine Liste großer und voraussichtlich teurer Infrastrukturprojekte im Parlament eingereicht werden muss, damit die analysiert werden können, kann das auch für die „Express-Tram“ geschehen, wenn François Bausch bis zu den Sommerferien seinen Vorschlag auf die Liste gesetzt haben wird.
Und man erinnert sich: CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler war der erste, der eine Tram-Erweiterung Richtung Süden erwähnte. Auf dem CSV-Kongress vom 24. März, wo er den „Wechsel“ ankündigte, falls die CSV wieder an die Macht käme, versprach er unter anderem, die hauptstädtische Straßenbahn nach Monnerich, Bartringen, Strassen, Niederanven, Contern und über Leudelingen bis Esch-Belval auszubauen. Außerdem würden entlang der Escher Autobahn Expressspuren für Busse angelegt. Zwei Wochen später sagte François Bausch geheimnisvoll, sein Plan, dem Süden zu einem Netz aus Niederflurbussen zu verhelfen, vielleicht ähnlich dem Metzer Mettis, und sie entlang der A4 auch in Richtung Hauptstadt fahren zu lassen, sei doch nicht die beste Lösung, und dass er „demnächst“ mehr sagen werde.
Man erinnert sich auch, dass vor zehn Jahren die CSV energisch für die neue Escher Strecke kämpfte. Der Süd-Abgeordnete Marc Spautz stellte Anfang 2008 fünf parlamentarische Anfragen dazu. Fraktionskollege Michel Wolter, der Ex-Landesplanungsminister und Held des IVL, sagte öffentlich, die Straßenbahn in der Hauptstadt, „bringt dem Land null Prozent“ höheren Anteils des öffentlichen Transports am Verkehr. Die neue Strecke nach Esch dagegen sehr wohl, zumal sie im IVL nicht nur als Schnellverbindung aus dem Süden ins Zentrum gedacht gewesen sei, sondern auch weiter in die Nordstad. So gesehen, könnte Bauschs Express-Tram ein Wahlkampf-Gadget sein, das konkreter ist als die Ankündigungen Claude Wiselers.
Interessanterweise aber nimmt die CSV den Vorschlag nicht nur positiv auf. Sie stört sich auch nicht weiter an dem langen Zeithorizont. Marc Spautz findet zwar, „2028 und 2035 ist weit weg, das sollte man möglichst beschleunigen“. Und von Leuten im Süden will er gehört haben, „nun kriegen auch wir was, weil bald Wahlen sind“. Aber das erzählt er nur auf Nachfragen hin, und zuständig in der CSV-Fraktion ist für Tram-Fragen heute der Abgeordnete Serge Wilmes. Er hat viel Verständnis dafür, dass erst in 17 Jahren eine Tram nach Esch fahren könnte: „Wir müssen ja erst einmal das Rückgrat in der Hauptstadt bauen.“ Als deren Erster Schöffe weiß er natürlich ziemlich gut, was dafür nötig ist. Und findet gar nicht, dass die Tram nur der Stadt etwas bringe und „dem Land null Prozent“, selbst falls sie nicht verlängert würde: „Sie ist in erster Linie ein Angebot an die Berufspendler. Fahren die Auto, statt den öffentlichen Transport zu benutzen, wird die Verkehrslage im ganzen Land schlimmer.“
Politisches Kapital aus François Bauschs Vorschlag zu ziehen, hat bisher nur die Piratenpartei versucht. Am Mitwoch behauptete sie, die Express-Tram werde den CFL-Zügen auf der bestehenden Strecke nach Esch Konkurrenz machen, und „die liberale Regierung“ habe „Lohndumping“ im Sinn. Besser sollten auf der bestehenden Strecke „Expresszüge“ zwischen Esch und Luxemburg fahren.
Aber lediglich schneller von der Stater Gare zur Escher Gare zu gelangen, ist mit der Express-Tram gerade nicht beabsichtigt. Sondern eine schnelle und umsteigefreie Verbindung zwischen Gegenden im Süden und der Hauptstadt zu schaffen, in denen demnächst viel gebaut wird. Weil die Tram eine „Feinverteilung“ von Passagieren übernehmen kann, sollen sich Punkt-zu-Punkt-Fahrzeiten ergeben, die am Montag beeindruckend kurz angegeben wurden: 35 Minuten zwischen Foetz und der Place de l’Europe auf dem Kirchberg, 20 Minuten zwischen Esch/Schifflingen und Hollerich. Damit würde die Tram nicht zur Konkurrenz für den Zug, sondern für das Auto, und so ist es auch gedacht: Um 55 Prozent könnten die Verkehrsbewegungen auf der A4 innerhab der nächsten 15 Jahre zunehmen, schätzt das Ministerium. Und selbst wenn mehr Autofahrer auf den Zug umstiegen oder Mitfahrgelegenheiten nutzten, blieben 20 000 potenzielle Autobahnnutzer täglich „zu viel“, fast vier Mal mehr als heute.
An solchen Szenarien liegt es vermutlich, dass François Bauschs Idee bisher so viel positives Echo gefunden hat. Vielleicht aber überzeugt sie auch, weil sie einen regionalen Ansatz hat. Schon zu Zeiten von Henri Grethens mobilitéit.lu und dem IVL sollte über eine neue Escher Streck nicht nur schneller von einem Hautbahnhof zum anderen gefahren werden. Damals wurde davon ausgegangen, dass auf dem ganzen Netz der CFL neben den klassischen Zügen auch Train-Tram-Züge, wie sie im BTB-Konzept standen, fahren würden. Das IVL hielt fest: „Das ÖPNV-Konzept für die Südregion basiert auf dem Grundgedanken, die internationale Anbindung und die Verbindung nach Luxemburg-Stadt als schnelle Verbindungen über Train-classique abzuwickeln und für die interregionale Erschließung das Train-tram anzubieten. Train-tram übernimmt die Erschließung und Verbindung der Gemeinden innerhalb der Südregion. Als Umsteigebahnhöfe zwischen Train-tram und Train-classique dienen Pétange, Esch/Alzette und Bettemburg. Der Busverkehr übernimmt die innergemeindliche Erschließung und die Zubringerfunktion zur Schiene.“
Verglichen mit François Bauschs Vorschlag fehlt dieser Beschreibung eigentlich nur der Radweg entlang der A4. Doch Train-Tram-Züge erledigten sich, als die CFL im Herbst 2005 wissen ließen, so einen Parallelbetrieb gebe die Infrastruktur nicht her. Frühestens 2017 sei sie so weit. Worauf der politische Kompromiss gefunden wurde, anstelle der Regionalbahn durch die Stadt eine Straßenbahn in der Stadt zu bauen. Mit dem Aus für Trains-Trams verlor auch die zweite Escher Streck ihren Sinn: Der damalige CSV-Landesplanungsminister Jean-Marie Halsdorf hatte 2005 eine Raumverträglichkeitsprüfung Schnellbahnstrecke Stadt Luxemburg – Esch/Alzette in Auftrag gegeben. Im Januar 2006 lag ein erster Bericht vor, für den untersucht worden war, was klassische und Train-Tram-Züge auf der Strecke brächten. Fazit: Der große Vorteil Letzterer sei die umsteigefreie „Feinerschließung“ in Esch, Belval und der Hauptstadt. Weiter untersucht wurde das nicht mehr, denn im März 2006 war die Option BTB politisch tot. Eigentlich war damit auch die zweite Escher Strecke politisch tot, fünf Jahre ehe die nächste CSV-LSAP-Regierung sie wegen zu hoher Kosten begrub. Der Einsatz der Süd-CSV 2008, sie doch zu bauen, war deshalb ziemlich perfide: Weil LSAP-Transportminister Lux sie für überflüssig hielt, ließ die CSV es so aussehen, als gönne der rote Lux dem – damals – roten Esch nicht mal das, was der blaue Grethen schon 2003 versprochen hatte. Dabei hatte 2007 eine zweite „Raumverträglichkeitsprüfung“, die diesmal die Escher und die Bettemburger Neubaustrecke verglich, nur Letztere zu bauen empfohlen. Publik wurde das aber erst im Herbst 2008. Dass Lux kurz zuvor in seinem Avant-projet für den sektoriellen Transportplan die Escher Streck sogar für „prioritär“ erklärt hatte, fiel nicht weiter auf. Und Avant-projet heißt ja nicht viel.
Kalter Kaffee sind die alten Geschichten nur zum Teil. Sie zeigen, welcher Bruch für Verkehrsplanungen durch das Aus für Train-Tram-Züge entstanden war. Das gab Raum für Politisierungen und allerlei verrückte Ideen für den Überlandverkehr, von Schwebebahnen bis hin zu Monorails. Alle Ansätze zur Erweiterung der Straßenbahn über die Grenzen der Hauptstadt hinaus sind Versuche, diesen Bruch zu überwinden: Wenn ein attraktives regionales Verkehrsmittel schon für nötig gehalten wurde, als man für 2050 den 700 000-Einwohnerstaat kommen sah, wieso dann nicht auch, wenn Luxemburg bis 2030 zum 800 000-Einwohnerstaat werden könnte?
Deshalb ist der erste konkretere Ansatz, die Tram über die Grenzen der Hauptstadt hinaus zu verlängern, ein Befreiungsschlag. Bemerkenswert ist aber auch sein Werden. Wie der Transportminister es beschreibt, ist das Konzept für Tram und Expressradweg entlang der A4, für den Umsteigepol in Foetz und die schnellen Busverbindungen im Süden, das erste Resultat eines neuen, gemeinsam mit einer Schweizer Firma entwickelten Verfahrens: Aus Wachstumsszenarien, Verkehrsflüssen und bestehenden Bauplanungen erlaube es, die optimale Mobilitätslösung zu finden, die leistungsfähig, attraktiv und rentabel genug ist. Falls dieses Instrument tatsächlich so gut ist, dann könnte François Bauschs Vermächtnis als Transportminister nicht nur darin bestehen, Druck gemacht zu haben für neue Infrastrukturen und den Kauf neuer Züge. Die Verkehrsplanung rationaler und weniger beeinflusst von politischen Interessen und vom Stammtisch gemacht zu haben, wäre am Ende noch viel wichtiger.