Und plötzlich wurden diese Woche die Überlandbusse zum Thema. Am Montag legte der Rechnungshof dem parlamentarischen Haushaltskontrollausschuss einen Bericht zum „RGTR-System“ vor. Anschließend machte er das über 90 Seiten lange Dokument publik. Darin stehen Feststellungen wie die, das Transportministerium habe das Überlandbusnetz „vernachlässigt“. Die Ausschussvorsitzende Diane Adehm (CSV) klagte in L’Essentiel: „Buslinien wurden nach und nach hinzugefügt, wenn etwas fehlte, eine Bilanz des Bestehenden aber wurde nie gemacht.“
Am Mittwochnachmittag warf aus heiterem Himmel der Verband der privaten Busbetriebe (Fleea) den Gewerkschaften OGBL und LCGB „Erpressung“ vor und „gegen die Interessen von Busfahrern und Kunden“ zu handeln, weil sie den Branchen-Kollektivvertrag gekündigt hätten. Ein paar Stunden später entgegnete der OGBL per Pressemitteilung: „Die Fleea lügt!“
Unmittelbar zu tun haben der Bericht des Rechnungshofs und der Sozialkonflikt in der Busbranche nichts miteinander: Der Rechnungshof hatte sich für 2015 vorgenommen, den RGTR zu durchleuchten, denn der wird als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge aus der Staatskasse finanziert. Seine Recherchen begannen im April 2015, fertig wurde der Bericht im Juni 2016. Kurz vor Weihnachten reagierte Transportminister François Bausch (Déi Gréng) darauf.
Dass der Verband der Busfirmen ganz bewusst nach Bekanntwerden des Berichts auf die Gewerkschaften schoss, ist aber zu vermuten. Auch wenn Thierry Nothum, der Direktor der Handelskonföderation CLC, in der die Fleea Mitglied ist, sagt, „wir haben nicht auf den Bericht gewartet“. Die Gelegenheit, die Gewerkschaften gerade jetzt als „unvernünftig“ vorzuführen, ist dennoch günstig: Nächstes Jahr muss der gesamte RGTR europaweit öffentlich ausgeschrieben werden. Die Fleea wie die Gewerkschaften könnten daran interessiert sein, dass ein starker Kollektivvertrag Firmen aus dem Ausland abschreckt.
Doch das geht nicht ohne den Transportminister. Er muss klären, welchen RGTR es ab 2019 geben soll und was er die Staatskasse kosten darf. Der Rechnungshof hat eindrucksvoll demonstriert, dass François Bausch das noch nicht sagen kann. Das eigentliche Thema der ganzen Auseinandersetzung ist die Liberalisierung des Sektors bei immer schwieriger werdender Verkehrslage.
Wie komplex das ist, zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Regierung über den „Haushalt der neuen Generation“ die Ausgaben für den RGTR senken wollte. Den Schülertransport inklusive, waren sie von 2008 bis 2015 um 51 Prozent auf 169,9 Mil-lionen Euro gestiegen. Wenigstens acht Millionen im Jahr sollten durch sieben Maßnahmen im Zukunftspak eingespart werden. Sie reichen von der „Streichung schwach genutzter Linien“ über verstärkte Kontrollen in den Bussen bis hin zur Abschaffung von Gratisangeboten. Umgesetzt wurde bisher fast nichts davon, wie der Rechnungshof herausgefunden hat. Es mangelt an Daten, an Leuten oder auch an der politischen Rechtfertigung. Immerhin wurden die Gratisangebote vor kurzem ausgeweitet.
Infrage steht jetzt weniger die soziale Ausrichtung des öffentlichen Transports, sondern seine Organisation. Der Transportminister hat schon recht, wenn er sagt, der Rechnungshof habe vor allem „Geschichtsschreibung“ betrieben. Denn viel Raum wird der Erzählung gewidmet, was für ein Fiasko das Kartenbezahlsystem E-go war, erst 2012 unter CSV-Minister Claude Wiseler eine ganz neue Ausschreibung stattfand und ein Verkehrstelematiksystem für den RGTR bestellt wurde, das Echtzeitinformationen für die Passagiere liefert, ein Dispatching der Busse erlaubt und die MKaart als E-go-Nachfolger enthält. Bausch räumt ein, die Installation des neuen Systems habe gut ein Jahr Verzug. Aber immerhin wird derzeit auch eine automatische Fahrgastzählung – per Lichtschranke an der Tür – in die Busse eingebaut. Zusammen mit monatelangen manuellen Fahrgastzählungen ab März und einer „Mobilitäts-Erhebung“, die es in diesem Umfang zuletzt vor 20 Jahren gab, sollen bis zum Herbst so viele Verkehrsdaten zur Verfügung stehen, wie noch nie. Die wird das Transportministerium gut gebrauchen können. Es müssen nicht nur neue Fahrpläne aufgestellt werden, wenn ab Ende des Jahr die Tram nach und nach in Betrieb geht. Im ganzen Land soll der RGTR reorganisiert werden, sollen Busse „Umsteigepole“ anfahren. Dazu hat das Ministerium Workshops mit Bürgerbeteiligung organisiert. Bis September sollen sie ihre Meinungen abgeben. Aus all dem „Input“ will François Bausch dann ein Überlandbus-Konzept aufstellen, das nächstes Jahr ausgeschrieben werden kann.
Dass die verkehrstechnische Neuordnung wirtschaftliche Konsequenzen hat, liegt auf der Hand. Bisher erhielten die 40 Privatbusbetriebe, die im RGTR 314 Buslinien bedienen, ihre Aufträge in „Direktvergabe“ vom Staat. Den Rahmen dafür setzt ein Konzessionsvertrag, der alle zehn Jahre erneuert wird. Eigentlich ist aufgrund einer EU-Verordnung Busverkehr-Direktvergabe schon seit 2009 nicht mehr erlaubt. Aber 2008 zog der damalige LSAP-Transportminister Lucien Lux die Verlängerung der Konzessionen um ein Jahr vor und sicherte Luxemburg so eine Übergangsfrist bis 2018. Damit habe er „gerettet, was zu retten war“, stellt das OGBL-Transportsyndikat Acal heute noch anerkennend fest. Nie aber wurde der RGTR grundsätzlich neu ausgerichtet. Laut Rechnungshof sind die Busrouten und die Abläufe seit 1978 weitgehend dieselben, wurden alle zehn Jahre fortgeschrieben, das Netz allenfalls erweitert. „Abschaffungen von Linien“, sagt Thierry Nothum, „sind sehr selten, eher gibt es Anpassungen“. Entsprechend tiefgreifend könnte sich die von François Bausch geplante RGTR-Neuausrichtung auswirken.
Von der Liberalisierung des Überlandbusdienstes gar nicht zu reden. Die Luxemburger Busfirmen haben viel zu verlieren, falls Anbieter aus dem Ausland den Zuschlag erhielten. Rechnet man zum Liniendienst noch den Schülertransport und die Fahrten für Behinderte hinzu, sind im Staatshaushalt für den RGTR dieses Jahr 216 Millionen Euro eingeplant. Von den 40 Busfirmen mit Konzession sind die meisten klein. Man könne sagen, „es fahren im Grunde nur acht, vielleicht zehn“, sagt OBGL-Acal-Sekretär Romain Daubenfeld. Der Transportminister meint, in der Branche werde es „eine Konsolidierung“ geben müssen. „Manche Firmen haben nur zwei Busse. Es gibt sie nur wegen des RGTR und weil der so gut bezahlt ist.“ Das sei „bestimmt nicht sinnvoll“. Entsprechend nervös ist die Fleea, sind aber auch die Gewerkschaften. Zwar lässt François Bausch „juristisch prüfen, ob wir tatsächlich ausschreiben müssen, denn das könnte zulasten der Qualität gehen“. Vielleicht, meint Bausch, lasse sich die Ausschreibung durch eine „entsprechende Organisationsform“ vermeiden. Doch die muss erst einmal gefunden werden.
In der Zwischenzeit wird der Busmarkt nicht nur immer größer wegen des Bevölkerungszuwachses. Die Verkehrslage wird immer komplizierter. Das zwölf Jahre alte elektronische Fahrplansystem mit dem seltsam klingenden Namen Bu-Bus produziert „theoretische“ Abläufe, die oft an der Realität auf den Straßen scheitern, wie der Rechungshof festgestellt hat. Wie die Betriebe damit klarkommen, sei ihnen überlassen, und es komme vor, dass zwei Busse eingesetzt werden müssen, wenngleich der Staat nur einen bezahlt.
Das führt mitten hinein in den Konflikt zwischen Fleea und Gewerkschaften: Weil RGTR-Busfahrer nicht selten im Stau stecken bleiben, kommt es vor, dass sie ihre vorgeschriebenen Pausen nicht rechtzeitig antreten können. Lässt sich das nachweisen, falls ein Busfahrer einen Unfall hat, kann das strafrechtliche Folgen haben. Gewerkschaften und Fleea baten deshalb 2013 den damaligen Transportminister Claude Wiseler, für Busfahrten bis 50 Kilometer, und das sind die meisten im RGTR, die Pausen national über eine Verordnung zu regeln. Die EU-Vorschriften erlauben das. Die Idee lautete, kürzere Pausen zu der vorgeschriebenen Dreiviertelstunden-Pause nach viereinhalb Fahrtstunden aufzuaddieren. So sollte sich, sagt Thierry Nothum, „auch die Gesamt-Schichtdauer senken lassen, denn die Touren der Fahrer könnten komprimiert werden“.
Wegen der vorgezogenen Wahlen blieb Wiseler keine Zeit für die Verordnung. Die Gewerkschaften versuchten, die Gesamt-Schichtdauer auch ohne die Pausenregelung zu verändern: Zurzeit gilt als Referenz, dass auf elf Stunden, die ein Busfahrer seinem Betrieb zur Verfügung steht, sieben Stunden garantiert als Arbeitszeit bezahlt werden. Die merkwürdige Formulierung rührt daher, dass ein Busfahrer nicht selten stundenlang auf einem Parkplatz in Bereitschaft steht und auf seinen nächsten Einsatz wartet. Das zählt nicht per se als Arbeitszeit, ist aber auch keine Freizeit, denn der Fahrer darf sich vom Bus nicht entfernen. Die Gewerkschaften wollen, dass diese Referenz ausgeweitet wird auf acht Stunden bezahlte Arbeitszeit bei zehn Stunden Schichtdauer. Weil sie sich mit der Fleea darüber schon einmal einig waren, behauptet der OGBL nicht ganz zu Unrecht, die Fleea lüge. Weil das Zugeständnis ihrer Unterhändler gegenüber den Gewerkschaften später in den Fleea-Gremien durchfiel, wirft die Fleea OGBL und LCGB nicht ganz zu Unrecht Erpressung vor, da diese vor zwei Wochen den ganzen Kollektivvertrag kündigten.
Das richtet sich auch an den Transportminister. Die neue Regelung in die großherzogliche Verordnung zu schreiben, wie die Gewerkschaften das wollten, hat François Bausch abgelehnt; sie gehöre in den Kollektivvertrag. Der Fleea nachzugeben, die die veränderte Referenz für nicht bezahlbar hält und mehr RGTR-Geld vom Staat will, hat er ebenfalls abgelehnt: „Die Bezahlung über den Konzessionsvertrag ist vorteilhaft, das gibt es nicht noch einmal in Europa.“ Im Dezember kündigte der Minister der Fleea ein „Audit“ über die Einnahmen ihrer Mitglieder an.
Weil OGBL und LCGB vier Wochen später den Kollektivvertrag kündigten, kommt es vor allem einem Signal der Fleea an ihre Mitglieder gleich, dass sie den bis dahin in der Öffentlichkeit unbekannten Konflikt am Mittwoch nach draußen trug: „Wir haben im Schnitt nur eine Gewinnmarge von 4,5 Prozent, aber es gibt Betriebe, die auf den RGTR für ihr Überleben angewiesen sind, während andere ihn nicht so dringend brauchen“, sagt Thierry Nothum. Dass es einen Kollektivvertrag gibt, ist der Fleea aber ähnlich wichtig wie den Gewerkschaften: Wird bis Ende 2018 kein neuer allgemeinverbindlich und würde das Überlandbusnetz tatsächlich ausgeschrieben, könnte ein ausländischer Akteur ein Preisangebot zum Mindestlohn machen, während Fleea-Betriebe sich weiter an den alten Vertrag halten müssten. Aber OGBL und LCGB scheinen zu meinen, sie hätten im Poker um die Arbeitszeit der Busfahrer die besseren Karten – vielleicht auch eingedenk des Audits, mit dem der Minister winkt.
Aber wahrscheinlich müsste François Bausch so eine Untersuchung ohnehin vornehmen. Schon Lucien Lux ließ die Einnahmen der Busbetriebe vor zehn Jahren durch einen Wirtschaftsprüfer durchsehen, obwohl er den RGTR weder ganz neu ausrichten, noch ausschreiben, sondern lediglich „Leistungskritrien“ einführen wollte, von deren Erfüllung seit 2008 bis zu 20 Prozent des staatlichen RGTR-Entgelts an die Busbetriebe abhängen. Der Konzessionsvertrag von 2008 schreibt den Betrieben auch eine analytische Buchführung vor, die zwischen „RGTR“ und „Nicht-RGTR“ trennt, womit zum Beispiel Reisebusfahrten gemeint sind. Doch mangels Personal im Transportministerium werde die analytische Buchführung der Firmen kaum kontrolliert, hat der Rechnungshof festgestellt. Auch die Kontrolle geleisteter Fahrten beruhe vor allem auf „Selbsterklärungen“ der Betriebe, so der Rechnungshof, klare Regeln für Sanktionen gebe es nicht. Da war es ein Novum, dass François Bausch 2015 neun Busbetrieben ihre Zuwendungen vom Staat wegen „Leistungsmängeln“, wie etwa nicht erledigte Fahrten, um zwei Prozent kürzte. Allerdings: Allein dank des neuen elektronischen Fahrplansystem, das eine realistischere Organisation des Busbetriebs erlauben soll, könnte es mehr Fahrten mit mehr Personal in mehr Bussen geben; dabei wiederum mehr Verkehr und vielleicht ganz neue Probleme.