Deutschland

Lange Leitung

d'Lëtzebuerger Land vom 30.07.2021

Noch ist sie im Amt, aber schon geht es ums Erbe. Um das politische Erbe von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ein Vermächtnis hat sie bereits der kommenden Regierung hinterlassen: die Ostsee-Pipeline Nordstream 2. Zwar konnte Merkel bei ihrem Besuch in den Vereinigten Staaten eine Einigung mit Washington herbeiführen, doch ist diese wohl eher ein vergiftetes Geschenk, denn eine Lösung des Konflikts. In einer gemeinsamen Erklärung, die seitens der USA und Deutschland, zur europäischen Energiesicherheit, der Ukraine und zum Klimaschutz vereinbart wurde, verpflichtet sich Berlin unter anderem dazu, dass die Ukraine auch nach 2024 Transitland für Gaslieferungen Russlands nach Westeuropa bleibt und so Transitgebühren einnehmen kann. Im Wortlaut heißt es in der Erklärung: Deutschland verpflichtet sich dazu, „alle verfügbaren Einflussmöglichkeiten zu nutzen, um eine Verlängerung des Gastransitabkommens der Ukraine mit Russland um bis zu zehn Jahre zu ermöglichen.“ Sollte dies nicht eingehalten werden, „wird Deutschland auf nationaler Ebene handeln und in der Europäischen Union auf effektive Maßnahmen einschließlich Sanktionen drängen, um die russischen Kapazitäten für Exporte nach Europa im Energiesektor, auch in Bezug auf Gas, zu beschränken, beziehungsweise auf effektive Maßnahmen auf anderen wirtschaftlich relevanten Gebieten.“ Zusammengefasst: Um Nordstream 2 endgültig durchzusetzen, verpflichtete Angela Merkel die nächsten Bundesregierungen zu Sanktionen gegen Nordstream 2, falls sich Russland nicht wohlverhält.

Eine Paradoxie. Insbesondere wenn man die Position des russischen Präsidenten Wladimir Putins einbezieht. Er hat mehrfach klargemacht, dass weitere Gaslieferungen Russlands durch die Ukraine nach 2024 vom Wohlverhalten Kiews abhängig sind. Eine Definition des Wohlwollens liefert Moskau mit: Die Ukraine hat autonome Gebiete im Osten des Landes zu akzeptieren, die Aufrüstung des Militärs einzustellen und die Ausrichtung nach dem Westen zu beenden. Die Ukraine solle sich, wie es historisch angelegt sei, an Russland anlehnen. Doch dies ist bereits ein Widerspruch zu den beiden ersten Sätzen der deutsch-amerikanischen Erklärung: „Die Vereinigten Staaten und Deutschland unterstützen mit Nachdruck die Souveränität der Ukraine, deren territoriale Unversehrtheit, Unabhängigkeit und den von ihr eingeschlagenen europäischen Weg. Wir bekennen uns heute erneut dazu, gegen russische Aggression und russische destruktive Aktivitäten in der Ukraine und darüber hinaus vorzugehen.“

Es ist dies der Summenstrich unter dem Versäumnis von Merkel nie und nimmer eine stringente Russlandpolitik oder gar eine Strategie im Umgang mit Moskau verfolgt oder ausgearbeitet zu haben. Berlin konnte im internationalen Zusammenspiel weder die Annexion der Krim rückgängig machen, noch auf die Einhaltung des Minsker Abkommens pochen; weder die Bombardierung Syriens unterbinden, noch einen politischen Mord durch russische Agenten in einem Berliner Park verhindern; weder Anschläge auf russische Oppositionelle abwehren, noch Russland in eine effektive Rüstungskontrolle einbinden. Dabei rühmte sich Berlin lange Zeit seines besonderen Drahts zu Moskau. Der Zerriss – insbesondere auch ob der persönlichen Antipathie und Animositäten zwischen Angela Merkel und Wladimir Putin. Und so treibt Moskau Berlin gerne vor sich her mit stets neuen Volten und abenteuerlichen Manövern. Dies wird eine besondere Herausforderung für die kommende Bundesregierung, von der nun erwartet wird, Russlands Handeln und Politik gegenüber der Ukraine beeinflussen zu können. Doch Moskau schert sich – wie es so schön heißt – einen feuchten Kehricht um das, was in Berlin gedacht und was in Brüssel gemacht wird.

So bleibt die Frage, wer von der neuen Ostsee-Pipeline profitiert. Da sind zunächst und allen voran die Energieunternehmen, die mit und durch diese nun ordentlich Geld verdienen. In Person ist es auch Merkels Vorgänger Gerhard Schröder, der sich von Moskau vor den Karren spannen und sich dafür fürstlich entlohnen ließ. Schließlich die Vereinigten Staaten, die die kommenden Bundesregierungen auf eine paradoxe Russlandpolitik festnageln werden, die zweifelsohne zu Konflikten führen wird. Kiew kann sich vordergründig als Nutznießer betrachten, denn die Ukraine bekommt Geld aus Deutschland, um die Auswirkungen des Gastransports durch die Ostsee abzufedern. Für den Anfang sollen es 400 Millionen Euro sein. Später mehr. Zweckgebunden für den Aufbau erneuerbarer Energien. Und schließlich auch Angela Merkel, die zum Ende ihrer Amtszeit sich noch einmal als Problemlöserin inszenieren konnte.

Auf der anderen Seite bleiben eine Menge Verlierer: Allen voran die Bundesrepublik Deutschland, die mehrere Staaten außenpolitisch dermaßen vor den Kopf stieß und sich so als unzuverlässiger Partner erwies – allen voran gegenüber Polen und den anderen osteuropäischen Staaten. Das sogenannte Weimarer Dreieck, Konsultationen zwischen Frankreich, Polen und Deutschland, hat endgültig seine Berechtigung eingebüßt. Aber auch die Europäische Union hat verloren, da sich Berlin erneut gegen fast alle anderen Mitgliedsstaaten durchgesetzt hat. Deutschland mag ein gewichtiges Land in der EU sein, doch Führung sieht anders aus. Die Ukraine wird in den kommenden Jahren zunehmend einer aggressiven russischen Außenpolitik ausgesetzt sein. Aber auch Russland steht auf der Verliererseite, da sich Deutschland hat auf eine anti-russische Ukrainepolitik festlegen lassen, die unweigerlich zu Sanktionsspiralen führen wird. Und nicht zuletzt muss den kommenden Bundesregierungen der politische Spagat gelingen, die Ukraine stärker in den Westen einzubinden und gleichzeitig Russland davon abzuhalten, dagegen vorzugehen.

Letztendlich legt die deutsch-amerikanische Erklärung zur Nordstream 2 ein Schlaglicht auf das außenpolitische Vermächtnis von Angela Merkel. Während ihrer gesamten Regierungszeit verfügte sie über keine stringente außenpolitische Strategie, was sich nun offenbarte. Sie agierte nicht in einem europäischen Rahmen, sondern ließ sich von engstirnigen nationalen Interessen leiten.

Martin Theobald
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