Brexit, die unendliche Geschichte

Gegen die Wand

d'Lëtzebuerger Land vom 29.03.2019

Eines ist sicher, wie und was immer auch zum 12. April geschehen wird: Es wird nicht einfach werden für das Vereinigte Königreich – ob innerhalb der Europäischen Union oder außerhalb. Es werden Jahre der Verhandlungen ins Land gehen, bis ein Status quo für Großbritannien wieder erreicht sein wird, der dem heutigen Stand der Dinge entspricht. Sollte England zu diesem Apriltag die EU verlassen, werden nur wenige Stunden vergehen, bis sich britische Spitzenbeamte in Brüssel wieder die Klinke in die Hand geben und um Gespräche bitten, um den angerichteten Schaden zu begrenzen. Selbst wenn der Austrittsvertrag vom Parlament in London doch noch angenommen werden würde, um die künftigen Beziehungen zu Europa vertraglich abzusichern. Kanada brauchte neun Jahre um ein Freihandelsabkommen mit der EU abzuschließen und umzusetzen. Die Schweiz musste mehr als hundert bilaterale Verträge mit der EU schließen, um einen reibungslosen Handel sicherstellen zu können und irgendwie am Ball bleiben zu dürfen. In Europa.

Und Großbritannien? Die Regierung von Theresa May brauchte zwei Jahre, um in diesen Tagen das Parlament dann doch in den Brexit einzubinden und den Abgeordneten zu gestatten, ihre Vorstellungen von der britisch-europäischen Scheidung auszudrücken, wenn auch nur über ein indikatives Votum, also ohne bindende Wirkung für die Regierung. Wäre dieser Schritt direkt nach dem Referendum vor drei Jahren erfolgt, hätten sich Regierung und Parlament auf einen Fahrplan für den Austritt einigen können, der anerkannte Grundlage für die Verhandlungen mit Brüssel gewesen wäre. Nicht dass das viel hilft: In der Nacht zum Donnerstag lehnte das Unterhaus acht Alternativen zum Brexit-Deal mehrheitlich ab.

Premierministerin Theresa May wäre gut beraten gewesen, wenn sie von Anbeginn an auf die Komplexität und Vielschichtigkeit der Trennung verwiesen hätte. Denn stets und ständig darzustellen, der Brexit sei ein Osterspaziergang, bei dem sich Brüssel von den Empire-Gehabe mancher Minister blenden lasse und darüber in Streit zerfallen würde, wer denn nun der Lieblingseuropäer von Londons Gnaden werden dürfte, zeugte von wenig Realitätssinn. Denn Brüssel zeigte in dem inzwischen fast zwei Jahre andauernden Tauziehen erstaunliche Einigkeit.

Unterschätzt wurde in den vergangenen Jahren auch die eigentliche Bedeutung der Europäischen Union – als Friedensprojekt. Auf diese Institutionalisierung des Friedens, auf diesen Kern des europäischen Gedankens konnte beispielsweise die Republik Irland bauen, wenn sie ihre Positionen bezüglich Nordirland vorbrachte. Die Iren setzten auf die europäische Solidarität, die immer dann greift, wenn wichtige nationale Interessen zur Disposition stehen. Dieses Einstehen für einander basiert auf der Reziprozität, dass jedes Land diesen Rückhalt ebenfalls genießen möchte, sollten seine nationale Interessen berührt werden.

All das hätten die Briten bereits 1973 lernen können, als sie Mitglied der damaligen Europäischen Gemeinschaft wurden: Es ist klar, dass ein Beitrittskandidat oder ein austretender Staat den Konsens der EU als Grundlage jedweder Verhandlungen akzeptieren muss. May und ihre Unterhändler, ihre Minister und Koalitionspartner, selbst die Opposition glaubten allzu gerne, dass sich bei den Brexit-Verhandlungen die EU und das Vereinigte Königreich auf gleicher Augenhöhe begegneten. Als sich in London Ernüchterung breit machte, dass dem nicht so sei, warf man Brüssel Starrköpfigkeit vor.

Mit den Verhandlungen um den Brexit ist ein einmaliges Konjunkturprogramm gelungen. Für Populisten. Für Euroskeptiker. In Deutschland hat man dieser Tage nicht gerade den Eindruck, als stünden in wenigen Wochen Wahlen bevor. Kein Plakat, keine politische Diskussion. Es ist, als hätten die Populisten ihr Ziel erreicht und Europa würde totgeschwiegen. Genau in diesem Populismus hat der Brexit seine Wurzeln – wenn auch mit britischen Besonderheiten. Wirtschaftliche Unzufriedenheit, mangelnder Reformwillen, soziale Spannung, Modernisierungsdruck und Verlustängste fanden ihr Ventil im Referendum von 2016. Keines der genannten Probleme wurde inzwischen auch nur in Ansätzen debattiert, geschweige denn gelöst. Weder in Großbritannien, noch in der Europäischen Union. Stattdessen beherrscht das Geschacher um den Brexit die politische, ökonomische wie gesellschaftliche Agenda und hält Regierungen hüben wie drüben davon ab, sich endlich um drängendere Herausforderungen zu kümmern.

Viele – vor allen Dingen Kontinentaleuropäer – hoffen nun, dass Labour die Oppositionsrolle einnimmt, sich eint, den Verve aus den Demonstrationen vom Wochenende aufnimmt, und so den Weg zu einem zweiten Referendum ebnet. Dann sollte es ein genehmes, europafreundliches Votum geben. Glaubt man. Doch einerseits ist die Haltung von Labourchef Jeremy Corbyn alles andere als klar, außerdem unterschätzen viele Menschen immer noch die „Intelligenz eines Referendums“. Eine Volksabstimmung ist kein Entscheid über eine Vision oder einen Richtungsweis, sondern eine pure und knallharte Abrechnung mit der Tagespolitik oder mit dem Unvermögen einer Regierung, das Votum eines Referendums umzusetzen. Schließlich wird das Ergebnis oder die Realisierung des Wählerwillens auch immer vom Grummeln und Motzen der Unterlegenen bestimmt. Dies widerspricht jedoch dem Ansehen eines Referendums als dem Ausdrucksmittel der direkten Demokratie. Auch wenn es manchmal wünschenswert ist, kann niemand so lange zur Wahl gebeten werden, bis das Ergebnis der herrschenden Meinung genehm ist.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte noch vor einer Woche vor dem Bundestag grundsätzliche Bereitschaft demonstriert, die Frist für die Briten bis zum endgültigen EU-Austritt zu verlängernm, allerdings nur wenn ein positives Votum zum mit Brüssel ausgehandelten Austrittsvertrag vom Parlament in Westminister gekommen wäre. Das ist, das zeigte sich diese Woche, nicht der Fall. Vielmehr ist eine überparteiliche Einigung im Unterhaus in weiteste Ferne gerückt. Einig sind sich die britischen Abgeordneten nur in einem einzigen Punkt: Dass sie weder diesen Brexit-Deal von Theresa May, noch die Alternativen zum Brexit wirklich wollen. Dass sie sich also fundamental nicht über einen EU-Austritt einigen können.

Martin Theobald
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