Leitartikel

Disunited Kingdom

d'Lëtzebuerger Land vom 14.12.2018

Noch war Theresa May britische Premierministerin, als sie gestern zum EU-Gipfel nach Brüssel reiste. Am Mittwochabend hatte sie ein parteiinternes Vertrauensvotum mit dem Versprechen überlebt, das Amt bald abzugeben. Die Vertrauensfrage hatten ihr die konservativen Abgeordneten schließlich gestellt, nachdem May die „bedeutungsvolle Abstimmung“ über das von ihr verhandelte Austrittsabkommen aus der EU auf unbestimmte Zeit verschoben hatte, weil ihr eine Niederlage im Parlament drohte. Aus den Parlamentsdebatten, die ihrer Entscheidung vorausgegangen waren, hatte sie geschlussfolgert, dass der sogenannte Backstop die größte Hürde für eine Mehrheit für das Abkommen darstellte.

Um zu verhindern, dass auf der irischen Insel zwischen der Republik Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland nach dem EU-Austritt Großbritanniens eine „harte“ Grenze mit Zoll- und Passkontrollen eingerichtet werden muss, die den seit 20 Jahren währenden Frieden in Gefahr bringen könnte, beschlossen May und die EU während der Verhandlungen den Backstop: Nordirland bliebe nach der Übergangsfrist Mitglied der Zollunion und des Binnenmarktes, bis es ein Freihandelsabkommen gibt, das deren Bestimmungen ersetzt. Um zu verhindern, dass die „harte“ Grenze dadurch in die irische See, also zwischen Nordirland und den Rest des Vereinigten Königreichs auf der britischen Insel verschoben wird, sehen die Scheidungspapiere außerdem vor, dass Großbritannien insgesamt Mitglied der Zollunion bleibt, bis es ein Freihandelsabkommen mit der EU gibt.

Diese aus Sicht Irlands unbedingt notwendige Rückversicherung, die aus dem Europäischen Blickwinkel nach sich zieht, dass Großbritannien weiterhin vom Zugang zur Zollunion profitiert, mögen viele Abgeordnete im britischen Parlament aus unterschiedlichen Ursachen nicht. EU-Gegnern gefällt nicht, dass die EU ihre Zustimmung für eine Beendigung der Backstop genannten Versicherung geben muss, die zeitlich unbegrenzt ist. Im Norden der irischen Insel selbst gibt es diejenigen, die befürchten, sie könnten vom Rest des Vereinigten Königreichs abgeschnitten werden. Und es gibt eben solche, die warnen, der Frieden gerate in Gefahr, falls sich das Gleichgewicht dort in irgendeine Richtung verändert. Deswegen will May von den europäischen Staats- und Regierungschefs zusätzliche Garantien, wie und wann der Versicherungsvertrag gekündigt und beendet werden kann.

Doch sogar wenn diese alle Fantasie aufbringen, um May irgendein Schriftstück mit zurück nach London zu geben, das den Zusammenhalt der EU nicht gefährdet, ist, aufgrund der so unterschiedlichen Interessenlagen, nicht gesagt, dass May damit ihr Austrittsabkommen durchs Parlament bringt, wenn sie abstimmen lässt. Die Ironie dabei ist, dass die Briten, die angeblich die Kontrolle zurückwollten, es dadurch quasi den EU-Staatsregierungschefs überlassen, dafür zu sorgen, dass ihr Königreich nicht auseinanderfällt. Dabei hätte vor dem Referendum ein Blick auf die Landkarte gereicht, um zu sehen, dass ein Brexit unweigerlich zu Problemen an der inneririschen Grenze führt.

In Erwartung der Abstimmung, die vor dem 21. Januar stattfinden soll, bleiben alle erdenklichen Szenarien möglich. Beispielsweise, dass jemand in der Opposition aufwacht und May vor dem ganzen Parlament die Vertrauensfrage stellt, weil es keine Mehrheit für ihr Abkommen gibt. Dann könnten Neuwahlen folgen. Da die EU aber weitere Verhandlungen über ein Austrittsabkommen ausschließt, fragt sich, was eine neue Regierung anders machen könnte als May. Seit der Europäische Gerichtshof am Montag bestätigt hat, dass Großbritannien noch entscheiden kann, zu unveränderten Bedingungen EU-Mitglied zu bleiben, gibt es auch wieder mehr Stimmen, die nach einem zweiten Referendum rufen. Aber auch dafür gibt es keine Mehrheit und es ist fraglich, ob ausreichend Zeit bliebe, eines zu organisieren, wenn diejenigen, die in Westminster das Sagen haben, nicht beschließen, den Austritt zu verschieben. Da die vergangene Woche gezeigt hat, dass alles andere als klar ist, wer dort das Sagen hat, sollte man sich am Krautmarkt auf jeden Fall alsbald intensiv mit der Notfallplanung für den 29. März beschäftigen.

Michèle Sinner
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