Regierung und Gemeinde versprechen: Die Hälfte der Plätze der Europaschule in Differdingen soll Einwohnerkindern vorbehalten sein. Nur: Wird das auch so kommen?

Eliteschule für alle

d'Lëtzebuerger Land vom 05.06.2015

Wird die öffentliche Europaschule in Differdingen eine Eliteschule für Kinder gut betuchter Professoren und IT-Angestellten? Diese Bedenken äußern Bürger der Südgemeinde, seit erste Details über die Pläne des Erziehungsministeriums bekannt wurden, in Differdingen eine französisch-englischsprachige Europaschule zu bauen. Also eine, die mit dem Programmen einer Europaschule funktioniert, die aber öffentlich finanziert (Kosten allein für das Personal: über 13,5 Millionen Euro) und deren Besuch somit für alle Schüler gratis sein soll. So groß war die Sorge, dass Differdingens Bürgermeister Roberto Traversini (Déi Gréng) mehrfach betonte, das Ministerium selbst habe zugesagi, die Hälfte der Plätze für Kinder aus der Gemeinde zu reservieren.

Spätestens mit Bekanntwerden des Gesetzentwurfs zur neuen Schule dürfte sich das Unbehagen verstärken. Denn im Text ist von einer regionalen Quote weit und breit nichts zu lesen. Zudem ist unklar, ob und wie die Gemeinde bei der Europaschule, die aus einer Grundschule, einem vorbereitenden Zweig und einer Sekundarstufe bestehen soll, mitentscheiden kann. Über die Einschreibungsprozedur heißt es lediglich, Schüler müssten einen Eignungstest bestehen sowie ihre Motivation schriftlich begründen. Quoten sind nur für die Sprach-Zweige – Französisch oder Englisch – sowie die vier Nebensprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Portugiesisch vorgesehen, allerdings ohne dass konkrete Zahlen genannt werden. Sollte das Bewerberinteresse die Zahl der Plätze in den jeweiligen Sprach-Zweigen übersteigen, soll eine Jury aus dem Schulleiter, dem Vizedirektor sowie drei pädagogischen Kräften der Schule das letzte Wort haben. Von einem Mitspracherecht der Gemeinde ist nirgendwo die Rede.

„Wer einen besseren Vorschlag hat, wie man die Zulassung regeln kann: Ich bin dafür offen“, versucht Gérard Zens Sorgen, die Schule könnte Differdinger Kinder benachteiligen, zu zerstreuen. Der Leiter der Sekundarschulabteilung im Bildungsministerium ist der zukünftige Direktor der neuen Schule und beteuert, man werde für eine „soziale Mischung“ sorgen. Das soll Zens auch den Gemeindeverantwortlichen versprochen haben, als diese vor den Pfingstferien mit dem Ministerium zusammengekommen waren, um Details zu besprechen. Schulschöffe Georges Liesch pocht darauf, dass die Schule vor allem Differdinger Schülern zugute kommen müsse: „Herr Zens hat uns versichert, dass die Hälfte der Plätze für Differdinger Schüler reserviert sein werde.“

Die drittgrößte Gemeinde im Land wünscht sich seit langem eine Sekundarschule – und sie braucht sie auch. In den vergangenen Jahren ist die Bevölkerung dort kontinuierlich gestiegen, und sie wächst weiter. Wegen des Zuwachses hatte das Ministerium 2007 schließlich grünes Licht gegeben und für eine weitere Süd-Schule den Standort Differdingen auserkoren. Geplant wurde zunächst ein reguläres Lyzeum. Groß war daher die Enttäuschung vieler Differdinger, als sie erfuhren, dass das Ministerium nun etwas anderes vorhat. Erziehungsminister Claude Meisch (DP) begründete den abrupten Sinneswandel damit – so steht es im Exposé des motifs –, dass es einen Mangel an bezahlbaren internationalen Schulangeboten im Land gebe. Durch den Umzug der Uni nach Esch-Belval sowie durch die fortschreitende Urbanisierung ziehen qualifizierte Arbeitskräfte in den Süden, die neben bezahlbarem Wohnraum Kindergartenplätze und Schulen für ihren Nachwuchs benötigen. Nicht alle könnten sich die Gebühren für Privatschulen leisten, die ohnehin am Ende ihrer Kapazitäten angelangt seien. Zudem böte das Konzept der Europaschule portugiesischen Kindern einen Unterricht in ihrer Muttersprache.

Doch so eindeutig lässt sich der Bedarf nach einer Europaschule aus den Zahlen, die das Ministerium in seinem Gesetzentwurf liefert, nicht ablesen. 3 894 der Schüler im Raum Süden im Schuljahr 2013/2014 sprachen laut Statistik daheim Luxemburgisch, 3 343 Portugiesisch, 628 Französisch, 798 Serbokroatisch und 169 Italienisch. Zumindest für portugiesische und luxemburgische Kinder scheint demnach ein Bedarf nach einem Angebot in der Nachbarschaft zu bestehen. In einer Rubrik „andere” sind 800 Kinder aufgezählt, aber eine Aufschlüsselung der Kinder mit englischsprachigem Hintergrund fehlt. Weil nicht genügend da sind? „Die Zahlen sind nicht geeignet, den Bedarf zu belegen“, sagt Jules Barthel vom SEW, der generell den Sinn einer Europaschule in Differdingen in Frage stellt. Die Lehrergewerkschaft befürchtet eine „Eliteschule, bei der die sozial Schwachen das Nachsehen haben werden“. Nach der Lektüre des Gesetzentwurfs erneuert Jules Barthel seine Kritik: „Es gibt im Text keinen Hinweis darauf, dass es in die richtige Richtung geht.“

Dass der Schulzweig, der schwächere Schüler auf das Programm der Europaschule oder aber eine Berufsausbildung vorbereiten soll, in einem anderen Gebäude untergebracht werden soll, ist für den Gewerkschaftler ein „Hinweis darauf, dass da womöglich zwei Schulen entstehen: eine für leistungsstärkere Kinder, deren Eltern aus Belgien, Frankreich oder Großbritannien stammen, und eine für lernschwache portugiesische Kinder aus Differdingen“. Es sei zudem unklar, was mit luxemburgischen Kindern aus der Region geschehen soll, so Barthel, der dem vielfältigen Sprachenangebot der Schule durchaus etwas abgewinnen kann, sich aber zugleich fragt, was eine öffentlich finanzierte Europaschule für die anderen Schulen im Land bedeutet. Auch die hohe Zahl an Chargées, 60 insgesamt, davon 20 in der Grundschule und 40 in der Sekundarschule, missfällt dem SEW.

Damit dürfte der SEW nicht alleine stehen. Denn auch wenn Erziehungsminister Meisch – zu Recht – betont, die sprachliche Vielfalt der Schüler verlange vielfältige Schulangebote, so liegt doch im Nebel, wie sich der Minister die Zukunft der öffentliche Schule mit ihrem programmatischen Fokus auf die Sprachen Französisch und Deutsch sowie Mathematik vorstellt. Seit fast 15 Jahren ist bekannt, dass immer mehr Schüler wegen der hohen Sprachforderungen auf der Strecke bleiben und Jugendliche, deren Talente eher im naturwissenschaftlichen oder praktischen Bereich liegen, im aktuellen System das Nachsehen haben.

Um Schülern, die kein Deutsch oder Luxemburgisch sprechen, eine faire Chance zu geben, ging das Lycée technique du centre (LTC) vor neun Jahren dazu über, den Bac international auf Französisch anzubieten. Vorreiter war die Waldorfschule gewesen, die als erste Schule in Luxemburg den französischsprachigen Bac anbot, damit Waldorfschüler nicht mehr für einen Abschluss in die öffentliche Schule oder nach Trier wechseln mussten. Das BI-Programm bot sich für die gebührenfinanzierte Privatschule an, weil es ein international anerkannter Abschluss ist, der den Zugang zur Hochschule erlaubt und mit seinem Akzent auf Autonomie und Methodik den Prinzipien der Waldorf-Pädagogik entgegenkommt.

Im LTC war die Einführung des anspruchsvollen Programms zunächst mit Startschwierigkeiten verbunden: Etliche Schüler stammten aus sozial benachteiligten Familien, hatten keine Eltern, die sie beim Lernen unterstützen konnten, nicht wenige waren erst vor kurzem nach Luxemburg gekommen. Dank einer strengen Vorauswahl und dem Engagement der Lehrer – und der Schüler – zählt der französischsprachige BI heute fest zum Schulprogramm.

Kurz darauf folgte das Athenäum mit einem BI-Programm auf Englisch. Dort sind es allerdings vor allem Kinder aus besser gestellten englischsprachigen Elternhäusern, die die BI-Klassen besuchen, darunter zunehmend Luxemburger, die in England oder den USA studieren wollen. „So ein Studium ist mit hohen Kosten verbunden“, weiß BI-Koordinatorin Joanne Goebbels. Weil das BI-Programm im Rahmen der öffentlichen Schule angeboten wird, kostet es die Eltern, anders als an der Waldorfschule und der International School, nichts. Fast 100 Schüler besuchen das englische BI-Programm. Das Interesse ist groß. Dieses Jahr haben sich über 50 Bewerber gemeldet. „Bisher mussten wir niemanden, der unseren Aufnahmetest bestanden hat, abweisen. Das könnte sich dieses Jahr ändern“, sagt Goebbels.

Auch das hauptstädtische Lycée technique Michel Lucius hält ein Englisch-Angebot bereit, das auf den A-Levels-Abschluss oder die Berufsausbildung vorbereitet und ebenfalls durch öffentliche Gelder finanziert wird. Ihre Schüler kämen „von überall“, sagt LTML-Direktorin Pascale Petry. „Es kann ein Neuankömmling aus Portugal sein, ebensowie ein Schüler, dessen Vater oder Mutter für eine Arbeit nach Luxemburg gekommen ist.“ Auch das englischsprachige Angebot am LTML erfreut sich wachsender Beliebtheit.

So hat sich in den vergangenen Jahren das Angebot der öffentlichen Schule sprachlich und pädagogisch immer mehr ausdifferenziert. Vom französisch- und englischsprachigen Bac international, englischsprachigen A-Levels, dem französischen Bac oder nun dem europäischen Abitur – über mangelnde Vielfalt des Schulangebots lässt sich kaum mehr klagen. Gleichzeitig drängt sich mit jedem neuen genehmigten Projekt die Frage auf, was der Trend zu anderen Diplomen für die Zukunft der Luxemburger Schule bedeutet. Und für faire Bildungschancen. Die noch unter der vorigen Regierung begonnene, nie fertig gestellte Sekundarschulreform lässt auf sich warten, dabei waren sich alle Seiten einig, dass es so nicht weitergehen kann. Eltern stimmen mit den Füßen ab und melden ihre Kinder auf Privatschulen im In- oder Ausland an. Wenn sie sie bezahlen können.

Zumindest theoretisch könnten sie sich das Geld künftig sparen und von den neu geschaffenen öffentlichen Angeboten profitieren. Aber tun sie das auch? Oder vergrößern die Angebote die ohnehin stark ausgeprägte soziale Segregation in Luxemburg: weil Kinder von bildungsbewussten einkommensstarken Eltern in jenen Programmen die Nase vorne haben, weil sie mit Mutter oder Vater für die Zulassung büffeln können, ihre Eltern eloquentere Motivationsschreiben verfassen und im Bewerbungsgespräch souveräner auftreten?

Die Benachteiligung von Einwanderer- und Arbeiterkindern im herkömmlichen Schulsystem ist bestens dokumentiert. Aber wie steht es um die alternativen Angebote in den privaten und zunehmend in den öffentlichen Schulen? Bislang wurde nicht untersucht, ob die Programme halten, was sie versprechen und wie sie sich auf die Bildungschancen auswirken. Wie aber will der Minister ungleiche Startchancen bekämpfen, ohne die Effekte der vielen Alternativangebote zu kennen? Droht etwa eine Zukunft, in der mehr noch als heute schon sozial schwache Schüler nur das Technique bleibt, während eine Elite sich im Classique, in einer Europaschule oder mittels BI die Zukunft sichert? Immerhin, am Lycée technique du centre scheint der Bac international auch in sozialer Hinsicht gewinnbringend zu sein: Zwischen 50 und 60 Prozent der BI-Schüler am LTC stammen aus Elternhäusern, die der Rapport Lycée und der Bildungsbericht 2015 als „peu favorisés“ beschreiben, sagt LTC-Vizedirektorin Antoinette Maas. Im Landesdurchschnitt schaffen nur rund 14 Prozent der Kinder aus diesen Verhältnissen den Sprung ins Classique.

Ines Kurschat
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