Die School-Leaks begannen nicht erst am 18.März, sondern schon im Februar – durch einen Internet-Fehler des Ministeriums

Schweizer Käse

d'Lëtzebuerger Land vom 27.03.2015

Am Montag, den 16. März, habe er erfahren, dass Kopien der landesweiten Épreuves communes im Zyklus 4.2. zum Übergang in die Sekundarschule im Vorfeld im Umlauf waren, sagte Claude Meisch am Donnerstag (19.3.) in einer Dringlichkeits-Fragestunde dem Parlament. Der jüngste Luxemburger Leak nahm seinen Lauf, als das Tageblatt am Abend des 18. März von Eltern zugesandte Testbögen veröffentlichte. Seitdem steht das Handy des Schulministers nicht mehr still: E-Mails von Eltern, die sich darüber ärgern, dass ihre Kinder dafür büßen müssen, dass Erwachsene sich nicht an Regeln gehalten und die streng geheimen Prüfungsaufgaben im Voraus verschickt haben. So erzählte es zumindest Meisch, der Briefe von „Teresa, Rick, Pedro, Tina, Nelly, Jenny und Nicolas“ zitierte. Die Schuldigen waren schnell ausgemacht: „ein paar Erwachsene – Lehrer, zum Teil aber auch Eltern“ aus dem Osten, die „fuddelen“, die mit „einer Energie“ und „Systematik“ aus welchen Motiven auch immer die Fragebögen gescannt und weitergeschickt hätten. Laut RTL-Radio sollen es nun zwei Echternacher Sekundarschullehrerinnen sein, die am Ursprung der Affäre stehen.

Doch so eindeutig, wie der Minister es darstellt, ist die Schuldfrage nicht. Dass die Prozeduren löchrig sind und dass das Ministerium eine eigene unrühmliche oder mindestens sehr nachlässige Rolle bei School-Leaks spielt, wird bei der Lektüre der parlamentarischen Anfrage deutlich, die Felix Eischen und Martine Hansen am 17. März – den Tag des Tageblatt-Leaks – stellten. In ihrer Frage verweisen die CSV-Abgeordneten auf einen Brief des Service de la coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (Script), der zuständig für die Organisation der Épreuves communes ist. Demnach hatte der Script bereits eine Woche vor den Prüfungen ein Schreiben an die Sekundarschullehrer der Conseils d’orientation verschickt, die über die Versetzung auf die Sekundarstufe entscheiden – und dabei die Prüfungsfragen mitangeheftet. RTL wittert nun in dem frühen Schreiben der CSV ein Indiz, sie habe möglicherweise bei einem „intriganten Spiel“ mitgespielt, was Martine Hansen als „starkes Stück“ entschieden zurückweist. Sie hätte zum Zeitpunkt ihrer Frage noch nichts vom Weiterverschicken durch Lehrpersonen gewusst. Doch der RTL-Bericht lenkt von wichtigen Fragen ab.

Der Minister mag an der frühen Post nichts finden, er verwies auf die Vertraulichkeit der Dokumente und die Schweigepflicht der Empfänger. Aber so einfach ist es nicht. Denn während nachzuvollziehen ist, dass die 20 Inspektoren im Land die Fragebögen eine Woche vorher zugeschickt bekommen, um eventuell aufkommende Fragen mit den Lehrern klären zu können, bleibt unverständlich, wozu die 200 bis 250 Sekundarschullehrer, die lediglich später im Orientierungsrat eine Rolle spielen, die Testfragen eine Woche vor dem Prüfungstermin benötigen. Das Ministerium riskierte mit dem Brief, den Kreis der Mitwisser unnötig auszudehnen. Wer weiß, dass die Lehrer die Schreiben in einem Briefumschlag in ihr Fach im Lehrerzimmer bekommen, kann sich ausmalen, wie leicht es ist, an die Prüfung zu kommen. Der Verweis des Ministers auf das Amtsgeheimnis, dem jeder Beamte unterliegt, stößt spätestens bei nicht-verbeamtetem Personal an seine Grenzen. Er könne nicht ausschließen, dass die Testfragen auch über diesen Weg weitergegeben wurden, sagte Jos Bertemes, Direktor des Script.

Berichte von Lehrern zeigen, dass das Ministerium offenbar allzu leichtfertig und naiv auf die korrekte Handhabe der brisanten Unterlagen vertraut hat – und es hätte besser wissen müssen. Seit einiger Zeit werden so genannte Koordinatoren und Vertrauensleute in den Gebäuden bestimmt, die zuständig für die Lagerung und Verteilung der Épreuves communes sind. Die Frage des Land, wie die Koordinatoren in den Grundschulen auf ihre verantwortungsvolle Aufgabe vorbereitet werden, und wo die Prozedur geschrieben steht, konnten der Minister und seine Beamten auf der Pressekonferenz nicht lückenlos beantworten. Auf nochmaliges schriftliches Nachhaken bekam unsere Zeitung zwar einen Kalender zur Orientierungsprozedur zugeschickt, sowie einen Brief an die Koordinatoren der Grundschulen vom 5. Februar über die Zusendung der Prüfungsunterlagen. Doch über eine Pflicht, diese vertraulich zu halten, verliert der Brief kein Wort. Auch ein Schreiben des Ministers vom selben Tag erwähnt die Vertraulichkeit der Prüfungen nicht, ebensowenig wie ein fünfseitiges Informationsschreiben an alle betroffenen Lehrer, das minutiös die Handhabung der Prüfungen erklärt – aber ebenfalls die absolute Verschwiegenheit vorauszusetzen scheint. Dass der Minister vor Journalisten und vor dem Parlament von „intellektueller Frechheit“ spricht, wenn die implizierte Vertraulichkeit hinterfragt wird, macht die Sache nicht besser. Während bei internationalen Leistungstests wie dem OECD-Test Pisa die Fragebögen einen Tag vorher in verschlossenen Kisten transportiert werden und die Premières-Examen in verschlossenen Tresoren bei den Schulleitungen lagern, gibt es Augenzeugenberichte, wonach die Épreuves communes in manchen Schulen in unverschlossenen Schränken verwahrt wurden, respektive immer noch werden. Das nennt sich dann wohl real existierende Vertraulichkeit.

Damit nicht genug: Dem Land liegen Berichte vor, dass schon früher Beschwerden unter Inspektoren und Lehrern über im Vorfeld bekannte Prüfungsfragen kursierten. Ähnliches berichtete eine Echternacher Lehrerin, die von RTL kontaktiert wurde und seit diesem Dienstag als eine der Hauptverdächtigten für School-Leak gilt. Selbst im Ministerium gab und gibt es Mitarbeiter, die die laxen Sicherheitsvorkehrungen in der Vergangenheit kritisierten – offenbar, ohne dass damals prozedurale Korrekturen erfolgten.

Es kommt aber noch dicker: Nicht nur scheinen Lehrer und Eltern schon im Vorfeld unberechtigterweise Zugang zu den Épreuves communes gehabt, diese gescannt und mitsamt den Audio-Dateien (wie wurden die gescannt?) für Verständnistests weitergereicht zu haben. Land-Recherchen zufolge wurden zudem ebenfalls geheime Lösungen zu den Tests bereits Anfang Februar versehentlich auf einer für Lehrer zugänglichen Internetseite eingestellt. Offenbar hatte ein Mitarbeiter einen Fehler begangen und die Korrekturhilfen aus Versehen einen ganzen Monat zu früh hochgeladen. Mindestens einem Lehrer ist das aufgefallen, der dies seinem Inspektor meldete. Dieser informierte daraufhin den zuständigen Script.

Das Land hatte von diesem Patzer schon vor der Ad-hoc-Pressekonferenz am Donnerstag Kenntnis. Doch die Frage, ob auszuschließen sei, dass Lehrer Zugang zu geheimen Prüfungsdokumenten über My-School oder eine andere IT-Plattform hatten, beantworteten sowohl der Minister als auch sein Beamter negativ. Entsprechende Hinweise lägen nicht vor, hieß es auf der Pressekonferenz. Wenn es stimmt, dass die Test-Lösungen jedoch durch einen Fehler oder eine Fehlkommunikation des Script auf die Internetseite gelangten, stellt sich die Frage, welche Konsequenzen daraus gezogen wurden. Er habe direkt nach Bekanntwerden des Patzers den Minister informiert und die Dokumente seien entfernt worden, erklärt Jos Bertemes. Das war im Februar. Zudem sollen die Lehrer – das Ministerium spricht von fünf –, die in dem Zeitfenster die Lösungen herunterluden, nachträglich noch einmal extra auf die Vertraulichkeit der Informationen hingewiesen worden sein. Wie lange die Korrekturvorgaben zum Download für Lehrer zugänglich waren, ist bisher unklar.

Bleibt die Frage, warum sich die Verantwortlichen nicht spätestens ab diesem Zeitpunkt ernsthafte Gedanken über allzu schlampige Sicherheitsvorkehrungen bei den landesweiten Prüfungen gemacht haben. Eine eindeutige Schuldzuweisung wird angesichts eigener Nachlässigkeiten jedenfalls nicht leichter. Vor dem Hintergrund, dass die Script-Verantwortlichen um den ersten selbstverschuldeten Leak Bescheid wussten, wirkt es doppelt leichtsinnig, die Prüfungsfragen schon am 16. März an die Sekundarschullehrer zu verschicken – zumal ohne Hinweis auf unbedingte Geheimhaltung und wo doch laut Kalender die eigentlichen Vorbereitungen der Conseils d’orientation erst am 21. April beginnen. Dass die Sekundarschullehrer die Testfragen vorzeitig erhielten, soll dieses Jahr erstmalig geschehen sein, weil dies von Lehrern aus organisatorischen Gründen so gewünscht wurde, so Bertemes. Die Vorgehensweise wird jedoch von einigen Beamten kritisch gesehen.

Zumindest aber müssen die Verantwortlichen erklären, warum sie nicht klare, für alle verbindliche und überprüfbare Sicherheitsvorkehrungen für einen Test getroffen haben, deren Resultate im weiteren schulischen Werdegang von Tausenden von Schülern eine wichtige Rolle spielen. Und warum sie den Zugang zu den eigentlich geheimen Prüfungsfragen nicht auf ein Minimum von Personen – und zum spätest möglichen Zeitpunkt – beschränkten. Er schließe nicht aus, dass man die internen Prozeduren überprüfen werde, hatte Claude Meisch auf der Pressekonferenz am Montagmorgen gesagt. In seiner Rede in der Abgeordnetenkammer am gleichen Nachmittag war davon keine Rede mehr. Da hatte sich der Minister ganz auf die Lehrer und Eltern eingeschossen.

Die Épreuves communes mögen laut Gesetz nur ein Bestandteil der Orientierung von der Grundschule in die Sekundarstufe sein. Fakt ist aber, dass sie neben den Grundschul-Bilans (Zeugnissen) ein Schlüsselelement bei der Bewertung über die Eignung für das Technique oder Classique sind. Das ist auch der Grund, warum Minister Meisch die Prüfungen nun mit viel Aufwand nachholen lässt. Im Fach Deutsch findet diese einen Tag später statt, nämlich am 24. März. Bei der französischen schriftlichen Produktion bleibt es beim 26. März. Die Prüfungen zum Hör- und Leseverstehen sind vorbei. Die zusätzlichen Tests sind für den 24. April (Deutsch) und den 21. April (Französisch) angesetzt. Für Mathe ist eine zusätzliche Prüfung am 23. April geplant.

Das werden dann allerdings keine regulären Épreuves communes sein. In seiner Not greift das Ministerium ausnahmsweise auf die Épreuves d’accès zurück. Normalerweise dienen sie als letzter Test für den Fall, dass Eltern nicht mit der Orientierungsempfehlung für ihr Kind einverstanden sind. Mit den originalen Prüfungsfragen sind sie aber nur bedingt vergleichbar: Während die Épreuves communes Fragen für das Technique und das Classique enthalten, also leichtere Fragen sich mit anspruchsvolleren abwechseln, sind sie in den Épreuves d’accès getrennt. Um die eigentlichen Épreuves communes zu erstellen, braucht es Experten zufolge mindestens sechs Monate Vorbereitung. Sogar wenn Verantwortliche beteuern, die Épreuves d’accès seien von einer vergleichsweise hohen Qualität (was nicht jeder, der mit den Tests befasst ist, so sieht) und der Minister beschwichtigt, dass beide Tests in die Endbewertung fließen sollen, bleibt immer noch der Prüfungsdruck: Schon ein Test von solcher Wichtigkeit bedeutet für die Kinder erheblichen Stress. Die 4 800 Schülerinnen und Schüler, die nun wegen der Fehler von Erwachsenen noch einmal ran müssen, können einem wirklich leidtun.

Ines Kurschat
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