In der Ukraine-Krise ist selbst den Kalten Kriegern von gestern heute das Hemd näher als der Rock

Einen Deal finden mit Russland

d'Lëtzebuerger Land vom 09.05.2014

Eingebunden in die Europäische Union und die Nato, kurzzeitig geschmückt mit dem Vorsitz des Weltsicherheitsrats, lässt der Zerfall der Ukraine auch die in der Regel parteiübergreifend getragene Luxemburger Außenpolitik nicht gleichgültig. Der Streit zwischen der Europäischen Union und der USA sowie beider mit Russland um die Kontrolle über die ehemalige Sowjetrepublik führt zu politischen und wirtschaftlichen Loyalitätskonflikten. Die drohen sich von Woche zu Woche zu verschärfen, seit Präsident Viktor Janukowitsch im November 2013 einen Assoziationsvertrag mit der EU ablehnte und das Land gespaltet zu werden droht zwischen jenen, die für Parlamentarismus und Marktwirtschaft nach EU-Vorbild kämpfen, und jenen, die sich kulturell und ökonomisch Russland näher fühlen.

Nach der Implosion der Sowjetunion bemühte sich die Europäische Union, die Ukraine aus dem Einflusskreis Russlands und unter ihre eigene Kontrolle zu bringen. Hierzulande machte sich die damalige CSV/LSAP-Regierung in ihrer außenpolitischen Erklärung im November 2006 unverhohlen für eine Einmischung in die ukrainische Politik stark: „Mir sollte versichen, déi pro-europäesch Kräften an der Ukraine weider ze ënnerstëtzen, och wann d’politesch Situatioun méi onduerchsichteg ginn ass an net all d’Entwécklungen an eng vun eis gewënschte Richtung gaange sinn.“

Gleichzeitig sollte verhindert werden, dass die USA die Kontrolle über die Ukraine erlangten. Zu diesem Zweck hatten die USA 2008 versucht, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Das lehnte die um ihre für historisch gehaltene Einflusssphäre in Osteuropa besorgte deutsche Regierung ab, und die Luxemburger Regierung pflichtete ihr bei. Im November 2008 stellte sie in ihrer außenpolitischen Erklärung dazu fest: „Mir soen och, datt dee Prozess déi gesamt­europäesch Friddensuerdnung net op d’Kopp geheien däerf. Déi georgesch oder ukra­inesch Adhésioun iwwert de Knéi ze briechen, hëlleft kengem, weder eis, nach Tblissi oder Kiev. De Rendezvous vun den Nato-Aussenminister am Dezember ass eng gutt Geleeënheet, eng éischt Evaluatioun vun de Progrèe vu Géorgien an der Ukraine op hirem Wee an d’Nato ze maachen. Et as sécherlech am Dezember net den ­Zäitpunkt, fir iwwert de MAP, de Membership Action Plan, eng Entscheedung ze huelen.“ Außerdem sei die Ukraine, so Außenminister Jean Asselborn (LSAP), „op der Nato-Fro, wéi a villen aneren, gespléckt. Dobei kënnt meng fest Iwerzeegung, datt um Plang vum politischen Equiliber, der spezifescher Sensibilitéit vun Russland méi Rechnung gedroe gi muss. Ane­refalls schafe mir e politischen Déséquiliber, wou grousst Mësstrauen all Zesummenaarbecht ­schwéier, wann net onméiglech, mécht.“

Die Rivalität zwischen der EU und den USA drückt sich auch in ihrer Beeinflussung der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen aus. Lange galt die ehemalige ukrainische Premierministerin Julia Timoschenko als die Favoritin der EU und der USA. Deshalb beteiligten sich noch vor zwei Jahren hierzulande Politiker, Presse und Sportfunktionäre lebhaft an der Diskussion, ob sie an der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine teilnehmen sollten, falls sie eingeladen worden wären, oder ob sie besser für die Freilassung der damals inhaftierten Timoschenko zuhause bleiben sollten. Doch als Jean-Claude Juncker im Sommer 2012 die Tochter der ehemaligen Premierministerin, Evgenia Timoschenko, empfing, geschah dies eher aus humanitären Gründen. Denn zu dem Zeitpunkt galt Timoschenko schon als unsichere Kantonistin.

Deshalb half die deutsche CDU, den Berufsboxer Vitali Klitschko als Gegenkandidaten aufzubauen. Noch vor einem Jahr war er von Politkern der Luxemburger CDU-Schwesterpartei CSV empfangen worden. Bei Premier Jean-Claude Juncker und Kammerpräsident Laurent Mosar konnte er um Unterstützung für seine Ukrainische Demokratische Reformallianz werben (und mit LSAP-Sportminister Romain Schneider „über Boxen, Fußball und Schulsport“ plaudern, so die offizielle Mitteilung). Doch selbst das half nichts, und Klitschko zog inzwischen seine Kandidatur wegen mangelnder Erfolgsaussichten zurück.

Luxemburgs Interessen in der Ukraine-Krise sind vor allem wirtschaftlicher Natur. Zumindest auf dem Papier ist das winzige Luxemburg der drittgrößte ausländische Investor im riesigen Russland, auch wenn die jährlich fast 40 Milliarden Euro vorwiegend Kapital sind, das über in Luxemburg niedergelassene Firmen transitiert. Aber auch einige luxemburgische Industriebetriebe, von Paul Wurth bis Luxlait, machen in Russland Geschäfte. Russische Banken und Investitionsfonds sind in Luxemburg niedergelassen, Luxemburger Banken arbeiten für russische Firmen und reiche Privatpersonen. Schließlich stammt ein Viertel des hierzulande verbrannten Erdgases aus Russland.

Jede Belastung der westeuropäischen Beziehungen zu Russland hemmen diese Geschäfte, gar nicht zu reden von Wirtschaftssanktionen. Noch am 4. März musste Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) eine für tags darauf geplante Wirtschaftsmission nach Moskau absagen, um sich nicht wirtschaftliche Kollaboration mit dem neuen alten Ennemi vorwerfen zu lassen. Entsprechend zurückhaltend ist die Regierung auch, wenn es heißt, wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland zu beschließen.

Darüberhinaus befürchtet die Regierung die Auswirkungen der Krise auf die internationale Wirtschaftskonjunktur. Gegenüber Radio Suisse Romande warnte Außenminister Jean Asselborn Mitte März: „Des sanctions économiques, et là il faut être réaliste aussi, contre la Russie, en fait ce seraient aussi des sanctions économiques contre nous-même.“ Einen Monat später dramatisierte er gegenüber RTL: „Dir wësst datt mir mindestens 30 Prozent wann net 40 Prozent an der Moyenne Gas aus Russland kréien an der Europäescher Unioun, Länner déi bis 80 Prozent, 100 Prozent kréien. An da kënnt Dir Iech virstelle wat fir een Impakt datt dat, net nëmmen op d’europäesch Wirtschaft huet, an op d’russesch Wirtschaft – op déi amerikanesch vill manner, well déi hunn nëmmen zéng Prozent vum Volumen, dee mir hu mat Russland – wat fir een Impakt datt dat huet. Do si jo scho Wirtschaftslobbyisten oder Denker an der Wirtschaft déi soen, dat kéint ee schreckleche Réckschlag ginn, esouguer och erëm eng Dérégulatioun vun der Weltwirtschaft mat sech bréngen.“

Deshalb hüten sich Regierung und Opposition, Propagandaschlachten des Kalten Kriegs nachzuspielen. Die Nato drang 2004 in das Territorium der ehemaligen Sowjetunion vor, als Litauen, Lettland und Estland Mitglieder wurden. Jean Asselborn warb kurz vor Weihnachten vergangenen Jahrs im Tageblatt für Verständnis dafür, dass Russland ein weiteres Vordringen der Nato und der EU aufhalten will: „Ich wage es zu sagen, dass mit Hinblick auf all das, was mit der Ukraine passiert ist, wir Russland ein wenig verstehen müssen. [...] Mit dem Fall der Sowjetunion waren Abermillionen Menschen in einer sehr schlechten Situation. Darunter viele russische Bürger in den ehemaligen Sowjetstaaten. Viele dieser Bürger sind es immer noch. Das war eine schreckliche Niederlage für die russische Seele. So weit, so gut. Ich verstehe auch noch, dass Russland versucht, Strukturen zu schaffen, um ein Konstrukt zu besitzen, das ihm eine Einflussnahme in diesen ‚verlorenen‘ Ländern ermöglicht.“

Das sahen die CSV-Abgeordneten im außenpolitischen Ausschuss des Parlaments Mitte Dezember nicht anders und meinten zur Nato-Erweiterung: „Des fautes ont été commises.“ Schließlich waren sie vor einem Jahr für die gemeinsame Außenpolitik mitverantwortlich. Doch selbst das Luxemburger Wort, lange Zeit letztes Refugium der Kalten Krieger in der CSV, hat kaum noch Lust, die ihm fast ein Jahrhundert lang liebe und teuere antirussische Propaganda fortzusetzen.

Der ARD erzählte Jean Asselborn Anfang März: „Ich war mit Jean-Claude Juncker 2005 einen Tag im Kreml, und wir haben Präsident Putin in unserer Eigenschaft als Präsidentschaft des Europäischen Rates einen ganzen Tag lang befragt, und mit ihm sprechen können. Und man hat schon damals gesehen, dass eigentlich sein Ziel ist, diese Strafe der Geschichte, wie er das gesehen hat, zu korrigieren. Die zweite Komponente ist natürlich auch – als Luxemburger kann ich das vielleicht besser sagen als ein Deutscher – aber was die Nato angeht, kam der Appetit über dem Essen. Ich glaube, wir sind als Nato näher und auch intensiver an Russland herangerückt, als das abgemacht war direkt nach dem Fall der Mauer.“ Abseits der Mikrofone kritisiert die Regierung zudem die martialischen Auftritte des augenblicklichen Nato-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen.

Weil auch die anderen internationalen Krisen besser mit statt gegen Russland zu lösen seien, rief Jean Asselborn im Februar im Deutschlandfunk auf: „Wir müssten mit Russland wirklich, wenn ich so sagen darf, einen Deal finden, um eine gemeinsame Schiene fahren zu können. Russland und die Europäische Union – man muss es wiederholen – sind strategische Partner.“

Ende Februar besuchte Jean Asselbon den russischen Außenminister Sergei Lawrow. Auf die Frage von Le Point, ob er danach beruhigt sei, freute er sich: „Oui. Lavrov n’a fait aucune allusion, ni directe ni indirecte, à une quelconque intervention militaire, si c’est cela que vous suggérez.“ Mit seinem belgischen und niederländischen Amtskollegen besuchte Asselborn Mitte März die Ukraine und warb für ein Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union, auf die Gefahr hin, dass es die Kluft zwischen dem EU-freundlichen Westen und dem russland-freundlichen Osten der Ukraine zu vertiefen droht.

Während die DP/LSAP/Grüne-Koalition hierzulande „ohne Angst vor der Meinung der Bürger“ für Verfassungsreferenden und eine Petitionsschwemme an das Parlament wirbt, lehnte Asselborn am 14. März in seiner Ansprache als Präsident des Weltsicherheitsrats das Referendum auf der Krim zuerst entrüstet als „Maskerade“ ab. Doch nach dem Abfall der Krim und der Angliederung an Russland bemühte er sich, rasch zur Tagesordnung überzugehen: „Dat bedeit, datt vun elo un d’Krim net méi ukrainesch ass. Kee wëllt militäresch agräifen, wat absolut ze verstoen ass. An dofir muss een d’Realitéit elo unerkennen“, erklärte er RTL. „Ech menge mir wäerten – an ech hoffen dat –, keng Wirtschaftssanktiounen déci­déieren.“ Damit positionierte Luxemburg sich auch gegenüber verschiedenen osteuropäischen und skandinavischen EU-Staaten, die auf härtere Sanktio­nen gegen Russland drängten. Beim EU-Gipfel im März betonte Premierminister Xavier Bettel (DP): „Le Luxembourg veut promouvoir la désescalation. Il n’y aurait pas de sens à aller sur la voie d’une surenchère de mesures, personne n’aurait à y gagner.“

Romain Hilgert
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