Vom Spëtzeldéngscht zum Verfassungsschutz (2)

Extremist ist immer der andere

d'Lëtzebuerger Land vom 25.04.2014

In seiner Erklärung zur Lage der Nation Anfang des Monats war Premier Xavier Bettel zu vielen politischen Fragen Antworten schuldig geblieben. Um so mehr fiel der einzige Gesetzentwurf auf, den er bei dieser Gelegenheit Kammerpräsident Mars Di Bartolomeo (LSAP) überreichte: das Projet de loi portant organisation du Service de renseignement de l’Ėtat. So wollte der DP-Staatsminister gleich zu Beginn der Debatten der oppositionellen CSV den Wind aus den Segeln nehmen und sie daran erinnern, dass ihr Fraktionssprecher Jean-Claude Juncker im vergangenen Sommer als Regierungschef über den Geheimdienst gestürzt war – und die Nachfolger nun die Scherben zusammenkehren müssen.

Geheimdienste funktionieren naturgemäß am Rande der Legalität. Denn anders beispielsweise als der von einer Unschuldsvermutung ausgehende Auftrag der Justiz und Polizei heißt ihr Auftrag, nach einer Schuldsvermutung Personen zu verfolgen, die keine Straftaten begangen haben, um so tatsächlich oder angeblich Straftaten gegen den Staat zu verhindern. Weil dies ab und zu ruchbar wird, kommt es immer wieder zu Geheimdienstskandalen. Der nach einem gescheiterten Privatisierungsversuch hysterisch gewordene Geheimdienst war der folgenreichste, aber keineswegs der einzige Skandal des ein halbes Jahrhundert alten Spëtzeldéngscht.

Doch der Geheimdienst ist ein Phönix. Als wären die Skandale gerade dafür gemacht, steht er aus jedem von ihnen stärker und schöner wieder auf. Zu diesem Zweck soll nun das dritte Geheimdienstgesetz verabschiedet werden.

1960 war der Nachrichtendienst auf dem ersten Höhepunkt des Kalten Kriegs geschaffen worden, um den äußeren und inneren kommunistischen Ennemi aufzuspüren. Das Ideal des Geheimdienstagenten war der militärisch gedrillte Untergrundkämpfer. Aus der Sicht des Geheimdienstes gab es nie ein besseres Geheimdienstgesetz als dasjenige vom 30. Juli 1960. Denn es war gerade sechs Artikel lang und damit so vage, dass der Geheimdienst gesetzeskonform tun und lassen konnte, was er wollte. Auch politische Polizei der CSV-Staatsminister zu spielen.

Als der Kalte Krieg 1989 durch ein KO des Ennemi beendet wurde, war der Nachrichtendienst überflüssig geworden. Verschiedene linke und liberale Politiker bis hin zu den nun regierenden Grünen, die sich alle als tatsächliche oder potenzielle Opfer des Geheimdienstes fühlten, verlangten seine Abschaffung. Doch die Terroranschläge im September 2001 in den USA und die anschließende Sicherheitshysterie schufen einen neuen, den terroristischen Ennemi. Das neue Geheimdienstgesetz vom 15. Juni 2004 war schon 20 Artikel lang, auch wenn die Hälfte der Artikel die Beamtenlaufbahnen der Agenten regelte. Denn der Nachrichtendienst wurde nicht abgeschafft, sondern spektakulär ausgebaut: Bis zu 60 hauptamtliche Agenten und großzügige Finanzmittel wurden ihm zugestanden. Der ideale Geheimdienstagent war zum liberal gesinnten Zivilbeamten geworden. Als Zugeständnis an die misstrauische Öffentlichkeit wurde eine parlamentarische Kontrolle geschaffen, die den jüngsten Geheimdienstskandal jahrelang erfolgreich zu vertuschen half.

Als Folge dieses Skandals sollen nun mit einem dritten, 37 Artikel langen Gesetz die Kontroll­instanzen verdoppelt und verdreifacht werden: Statt des Staatsministers sind nun der Staatsminister, der Justiz- und der Minister für innere Sicherheit für die allgemeine Ausrichtung des Geheimdienstes und die Koordination seiner Aktivitäten zuständig. Damit wird die politische Verantwortung, die vergangenes Jahr den Staatsminister das Amt gekostet hatte, auf mehrere Personen und somit in der Regel auf mehrere Parteien einer Regierungskoalition verteilt, was den Eifer zum Sturz der Regierung hemmen dürfte. Zudem soll der Geheimdienst einen ständigen internen Betriebsprüfer erhalten, einen vom Staatsminister ernannten Delegierten, der an den Sitzungen der Direktion teilnehmen und über Kontroll- und Ermittlungsbefugnisse verfügen soll. Auch soll der Geheimdienst, als Folge des Bommeleeërten-Prozesses, vom Gesetz verpflichtet werden, mit der Justiz und Polizei zusammenzuarbeiten und ihm bekannt gewordene Straftaten anzuzeigen, was sich schon aus der bestehenden, aber vom Geheimdienst missachteten Gesetzgebung ergab.

Erstmals soll der Gebrauch aller Überwachungstechniken auf dem möglichst neusten Stand der Wissenschaft bis hin zur Einschleusung von Under-cover-Agenten unter falscher Identität, veraltet: agents provocateurs, ausdrücklich erlaubt und bürokratisch geregelt werden. Dazu soll den Agenten nun auch ganz offiziell erlaubt werden, Schusswaffen zu tragen. Der ideale Geheimdienstagent wird der nach allen bürokratischen Regeln des New public management gegen Terroristen und für den Wirtschaftsstandort spionierende Technokrat. Weshalb trotz Sparpolitik der Personalrahmen von 60 auf 65 hauptamtliche Agenten erhöht werden soll.

Weil die Axt im Haus den Zimmermann erspart, schrieb Direktor Patrick Heck den Gesetzentwurf über den Nachrichtendienst weitgehend selbst. Im Januar vergangenen Jahres hatte er dem parlamentarischen Ermittlungsausschuss überraschend erklärt, dass der Nachrichtendienst seiner Ansicht nach „im Sinn des Gesetzes von 2004 ein Inlandsdienst, ein Verfassungsschutz“ sei und deshalb „vorrangig mit jenen Diensten“ zusammenarbeite, „die Inlandsdienste sind, die so arbeiten, wie wir auch arbeiten“. Keiner der Abgeordneten hatte etwas gegen diese Beschreibung einzuwenden. Hecks Idee stammt aus Westdeutschland, wo 1950 mit Restbeständen der 1951 amnestierten Geheimen Staatspolizei das Bundesamt für Verfassungsschutz gegründet wurde, um im Kalten Krieg mit Ostdeutschland Jagd auf angebliche Gegner der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ zu machen und vorübergehend mit Berufsverbot zu belegen.

Deshalb soll der Geheimdienst nun erstmals durch Gesetz beauftragt werden, den „Fortbestand der demokratischen und verfassungsmäßigen Ordnung“ zu schützen und den „Extremismus“ zu bekämpfen. Doch ein Extremist lässt sich nicht definieren, es ist immer der andere. Der gemäßigte Demokrat von heute wäre früher vielleicht selbst ein Extremist gewesen. Denn das allgemeine Wahlrecht, die Abschaffung der immerwährenden Neutralität oder die Teilnahme von Ausländern an Legislativwahlen galt oder gilt für viele als Bedrohung der demokratischen und verfassungsmäßigen Ordnung. Das Vorbild für die Extremismus-Jagd, der auf dem rechten Auge blinde deutsche Verfassungsschutz, hält selbst die größte Oppositionspartei im Bundestag, die Linke, für extremistisch und „observiert“ sie.

Das Gebot der Extremismus-Jagd steht im Widerspruch zum Verbot jeder innenpolitischen Überwachung im selben Gesetzentwurf. Der Motivenbericht erklärt die geplante Neuerung damit, dass die Wirtschaftskrise „die soziale Prekarität, die Arbeitslosigkeit und die Unsicherheit“ und damit „schließlich das Aufkommen extremistischer politischer Bewegungen in Europa begünstigt“ habe. Nach dem Ende des Luxemburger Tripartite-Modells soll der Geheimdienst für eine Verschärfung der Verteilungskämpfe gerüstet werden. Jeder vom Geheimdienst für extrem gehaltene Widerstand von Armen und Arbeitslosen gegen eine extremistische Wirtschaftspolitik in der Europäischen Union kann als Bedrohung der Staatssicherheit kriminalisiert werden.

Dies gilt um so mehr, als der Gesetzentwurf jede von der Neuen Mitte entfernte politische Bewegung als extremistisch zu kriminalisieren erlaubt, selbst wenn sie auf friedlichstem Weg ihr von der Verfassung geschütztes Recht auf Ausdrucks- und Versammlungsfreiheit nutzen will, um eine Verbesserung der verfassungsmäßigen Ordnung anzustreben.

Im Gegensatz zum blau-rot-grünen Gesetzentwurf las sich das Maulkorbgesetz der Vorkriegs-Klerikalen und -Liberalen deshalb beinahe liberal. Denn im Referendum von 1937 wurde lediglich über die Auflösung von Organisationen abgestimmt, „die durch Gewalt oder Drohungen die Verfassung oder die Gesetze des Landes ändern wollen“. Aber selbst das ging einer knappen Mehrheit der Bevölkerung zu weit, und die Geschichte sollte ihr Recht geben.

Les ajoutes par rapport à l’article 2 de la loi actuelle du 15 juin 2004 sont relevées en gras.
Romain Hilgert
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