In der psychiatrischen Abteilung des Escher Krankenhauses Emile Mayrisch wird seit drei Monaten das Anästhetikum Esketamin, ein Derivat von Ketamin, verabreicht. Fabrice Godenir, zuständiger Psychiater für die Esketamin-Therapie, sitzt in seinem Büro: „Das Profil der Patientinnen und Patienten, die für unsere Behandlungen zugelassen werden, sind therapie-resistente, schwer depressive Fälle.“ Godenir – braune Locken, rundes Gesicht, blaues Hemd – wartet auf die Fragen, die man ihm stellt. Es scheint ihm fernzuliegen, jemandem ins Wort zu fallen. Der Arzt war zuvor Abteilungsleiter am Saint-Luc-Krankenhaus in Namur und dort an Forschungen zu Esketamin beteiligt. Seit 15 Jahren arbeitet er mit der Substanz. Vor ihm liegt ein unscheinbarer, weiß-rot verpackter Nasenspray. Er beschreibt ihn nahezu als Wundermittel: „Zuvor isolierte Depressive nehmen nach ein bis zwei Verabreichungen wieder soziale Kontakte auf.“ Manche könnten nach monatelangen Esketamin-Behandlungen wieder ins Berufsleben einsteigen und sogar auf Therapiesitzungen verzichten. Der Arzt spricht von einer 70-prozentigen Verbesserung des Zustands der Betroffenen – das sei ein ungewöhnlicher Wert im Vergleich zu den auf dem Markt üblichen psychiatrischen Medikamenten.
Die Ko-Abteilungsleiterin Sara Cavalheiro pflichtet ihm bei: „Neulich haben wir eine E-mail von einer Bekannten eines Patienten bekommen. Sie hat sich bei uns bedankt, der bewirkte Wandel sei wirklich erstaunlich, schrieb sie.“ Die Ärztin Cavalheiro zeigt uns ein Spitalbett in dem die erste Esketamin-Verabreichung stattfindet, die Laken sind noch zerzaust. „Jeder reagiert anders, manche erleben beispielsweise keinen dissoziativen Zustand, wie er zumeist eintritt,sondern werden sehr müde“. Über die unsichtbare Seite der Wirklichkeit, die Innenperspektive der Patienten, können sie derzeit nicht viel berichten. Ohnehin betreuen sie nur wenige Esketamin-Patienten, derzeit sind es sechs und über die Krankenhauskonvention können nur maximal 20 Patienten im Jahr aufgenommen werden Das Therapieangebot variiert von einer bis zwei Sitzungen pro Wochen, verteilt auf einen Zeitraum von sechs Monaten.
Die Esketamin-Therapien gehören zu den psychedelischen Behandlungsansätzen. Darunter fallen psychoaktive Substanzen wie Psilocybin (Magic Mushrooms), LSD, MDMA, Meskalin oder Ketamin. Psychedelika werden in klinischen Settings eingesetzt, um therapie-resistente Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen oder posttraumatische Belastungsstörungen zu behandeln. In der Schweiz werden LSD, Ketamin und MDMA bereits seit 2014 in Therapien eingesetzt. Seit Juli 2023 dürfen Psychiaterinnen und Psychiater in Australien Psilocybin bei therapieresistenten Depressionen und MDMA bei PTBS verschreiben. Auch in den USA sollen ab diesem Jahr MDMA und Psilocybin im medizinischen Kontext Anwendung finden.
Am Mittwoch wollte die grüne Abgeordnete Djuna Bernard im Parlament von der Gesundheitsministerin wissen, wann Luxemburg einen gesetzlichen Rahmen schaffen wird, um diese Therapieformen anzuerkennen. Denn die Studienlage sei, so Bernard, „ganz, ganz interessant; Probanden erzielen vun dauerhaften an déifgräifenden Verbesserungen, do wou klassesch Therapieformen oft näischt bruecht hunn.“ Die Erkenntnislage sei vielversprechend, pflichtete Martine Deprez (CSV) der grünen Abgeordneten bei. Sollten sich die klinischen Studien weiterhin verdichten, sei man offen dafür, die juristischen Voraussetzungen auszuarbeiten. Weiterhin erklärte Deprez am Rednerpult der Chamber, dass in Luxemburg bislang kein Forschungsprojekt in diesem Bereich durchgeführt worden sei. Sollte jedoch eine medizinische Abteilung ein solches Projekt in die Wege leiten wollen, werde das Gesundheitsministerium eine klinische Studie im Bereich der Psychedelika unterstützen – die finanziellen Mittel seien vorhanden. Bis auf Weiteres aber fallen psychedelische Substanzen unter das Gesetz über die „Stupéfiants et Psychotropes“ und besitzen keinen Medikamentenstatus.
Seit etwa zwanzig Jahren erleben die therapeutischen Wirkungen von Psychedelika erneut ein wachsendes wissenschaftliches Interesse. Die Anfänge dieser Forschung lassen sich jedoch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. Im Jahr 1962 führte Walter Pahnke, Psychiater und zugleich protestantischer Geistlicher an der Harvard Universität, das bekannte Karfreitags-Experiment durch. Diese Studie sollte erstmals experimentell untersuchen, ob psychedelische Substanzen sogenannte mystische Erfahrungen auslösen können. Für das Experiment erhielten Theologiestudenten während eines Karfreitagsgottesdienstes in einer Kapelle entweder Psilocybin oder als Kontrollsubstanz Nikotinsäure. Die Probanden beantworteten unmittelbar im Anschluss sowie ein halbes Jahr später einen Fragebogen zu mystikaffinen Erlebnissen. Bei 30–40 Prozent der Teilnehmenden, die Psilocybin erhalten hatten, konnte eine solche Erfahrung in allen ihren Dimensionen (neun definierte Kategorien) festgestellt werden; in der Kontrollgruppe lag der Anteil hingegen bei null Prozent. Neun von zehn Probanden beurteilten ihren Rausch zudem als bedeutsam und gaben an, erneut an einem solchen Experiment teilnehmen zu wollen, sollte sich die Gelegenheit ergeben.
Der Theologiestudent Huston Smith, der als Versuchsteilnehmer beteiligt war, erzählte später dem Journalisten John Horgan, er sei in einen Zustand versetzt worden, den Hindus als bhakti bezeichnen. Er habe monatelang die (angenommene) Liebe Gottes gespürt. Bis Mitte der 1960er Jahre erschienen zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, die sich mit LSD als möglichem therapeutischen Wirkstoff befassten. Darüber hinaus machten Autoren wie Aldous Huxley psychedelische Erfahrungen in der Öffentlichkeit bekannt; Huxley argumentierte, Psychedelika führten zu einer „radikalen Selbsttranszendenz und einem tieferen Verständnis der Natur der Dinge“. Doch mit der zunehmenden Drogenregulierung in den 1960er Jahren kam die experimentelle Erforschung psychedelischer Bewusstseinszustände in den USA weitgehend zum Erliegen.
Es sollte bis nach der Jahrtausendwende dauern, bis erneut Studien zu Psychedelika durchgeführt wurden. Im Jahr 2006 wiederholte Roland Griffiths an der Johns Hopkins Universität das sogenannte Karfreitags-Experiment und initiierte damit eine zweite Welle der Psychedelika-Forschung. Seit einigen Jahren werden jedoch Fragebögen, die mystikaffine Dimensionen erfassen sollen, mit einer gewissen Ambivalenz betrachtet. Zum einen möchte die Forschung sie beibehalten, da viele Befunde auf diesen Erhebungsinstrument beruhen – wie David Yaden und Sean Goldy 2024 in Nature Reviews schreiben. So haben verschiedene Studien gezeigt, dass intensivere mystische Erfahrungen mit anhaltenderen antidepressiven und anxiolytischen Wirkungen korrelieren. Zugleich versucht man jedoch, den Begriff der Mystik zunehmend zu säkularisieren und ihn von seinen „unnötig triggernde, irreführende Konnotationen“ zu befreien. Yaden und Goldy verweisen darauf, dass der Religionsphilosoph William James, der 1902 erstmals eine Definition der „mystischen Erfahrung“ formulierte, nie beabsichtigt hatte, diese mit dem Übernatürlichen oder Nicht-Rationalen zu verknüpfen. Doch die Grunddefinition von James bleibt in Bezug auf transzendentale Fragen interpretationsoffen: Die mystische Erfahrung, so schreibt er, sei „flüchtig“, „überwältigend“, „noetisch“ (erkenntnisgebend) und „unbeschreibbar“.
Elie Gottlieb, kurzes braunes Haar, Nasenring, freundlich-junges Gesicht, sitzt am Hamilius in einem Brunch-Lokal. Er koordiniert die luxemburgische Gruppe rund um PsychedeliCare, eine EU-Bürgerinitiative, die eine Petition und Sensibilisierungskampagne für den Einsatz von Psychedelika in Therapiesettings lanciert hat. Auf dem blau-lila Flyer, den er mitgebracht hat, sind drei zentrale Anliegen genannt: Es brauche standardisierte Richtlinien für psychedelische Therapien, mehr Mittel für die Forschung sowie eine verantwortungsvolle internationale Zusammenarbeit, die auf wissenschaftlichen Evidenzen basiert. Mittlerweile hat die Initiative 40 000 Unterschriften gesammelt; das Ziel liegt jedoch bei einer Million. Das Anliegen entpuppt sich als Nischenthema, denn nur noch bis Januar 2026 kann unterschrieben werden.
Der an der Brüssler ULB ausgebildete Psychologe Elie Gottlieb entschied sich 2024, am Integrative Psychiatry Institute mit Sitz in Colorado eine Online-Ausbildung zu absolvieren und sich mit den therapeutischen Möglichkeiten psychedelischer Substanzen zu befassen. „Auch, weil mir meine Ausbildung in der kognitiven Verhaltenstherapie nicht als ausreichend erschien. Diese Herangehensweise benötigt in herkömmlichen Psychotherapie-Settings viel Zeit, um an die Ursachen von Problemen heranzukommen.“ Seine Ausbildung am Integrative Psychiatry Institute beinhaltete eine Sitzung mit Ketamin in Colorado sowie eine mit Psilocybin in Oregon. „Nach der Einnahme von Ketamin hatte ich das Gefühl, zu schweben und mich universell verbunden zu fühlen. Was einen umgibt, wird wichtiger – etwa die Natur, Pflanzen, Bäume. Das war befreiend.“ Der dissoziative Zustand dauere etwa eine Stunde an. Psilocybin wirke hingegen stärker auf der affektiven und interpersonalen Ebene. „Es ermöglicht meines Erachtens eine Einsicht in das Unterbewusste, das Verborgene – weniger in das Symptom. Die psychische Erfahrung ist tiefer“, so der Psychologe Gottlieb.
Unterstützt wird die PsychedeliCare-Initiative von der grünen Europaabgeordneten Tilly Metz. Gemeinsam mit dem maltesischen Sozialisten Alex Agius Saliba hat sie Anfang Februar dieses Jahres eine Interest Group im Europäischen Parlament ins Leben gerufen. Diese setzt sich in Brüssel unter anderem dafür ein, dass sich die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) den derzeitigen Status psychedelischer Substanzen überdenkt. Um die Debatte auch in Luxemburg voranzubringen, lud Tilly Metz am 5. Juni zu einem Gespräch im Cercle Cité in Luxemburg-Stadt ein. Dort unterstrich Fabrice Godenir erneut, dass Esketamin deutliche Therapieerfolge zeige (übrigens: René Metz, der Direktor des Escher Spitals ist der Bruder von Tilly Metz). Die französische Psychologin Marion Barrault äußerte sich hingegen zurückhaltender. Sie wies darauf hin, dass der Enthusiasmus um diese neuen Therapieformen eine Erwartungshaltung erzeuge, die den Fokus vor allem auf positive Effekte lenke – wodurch in Studien negative Auswirkungen womöglich nicht ausreichend berücksichtigt worden seien.
Tatsächlich werden unerwünschte Wirkungen des psychedelischen Konsums erst seit einigen Jahren systematischer erforscht. In einer Studie mit 608 Teilnehmenden, die über anhaltende Schwierigkeiten nach psychedelischen Erfahrungen berichteten, traten als häufigste Nebenwirkungen Angstzustände und Wahrnehmungsstörungen auf. Besonders betroffen waren Personen, die Psychedelika in einem Party-Setting konsumiert hatten. Doch immerhin acht Prozent der Befragten berichteten über negative Auswirkungen, nachdem sie an einer klinischen Studie oder einer psychedelischen Therapiesitzung teilgenommen hatten. Die Daten legen also nahe, dass die Einnahme von Psychedelika selbst in einem sogenannten sicheren Umfeld nicht gänzlich risikofrei ist. In ihrem Nature Reviews-Artikel schlussfolgern David Yaden und Sean Goldy, dass „klinische Studien im Allgemeinen ein gesteigertes Wohlbefinden und therapeutische Vorteile“ festgestellt haben – die positiven Auswirkungen also überweigen. Im Kontext „hoher Raten psychischer Erkrankungen“ hätten diese ersten Erkenntnisse „erhebliches – wenn auch oft voreiliges – Interesse“ geweckt.
Nach der Veranstaltung im Cercle Cité hat sich eine WhatsApp-Gruppe gegründet, in der sich rund 50 Personen austauschen – vor allem Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen. Alle zwei Wochen findet ein Treffen statt, sagt Elie Gottlieb. Über Instagram versucht die Gruppe zusätzlich, Sensibilisierung zu betreiben. „Junge Menschen scheinen offener für das Thema“, beobachtet der Psychologe. Die Ärzteschaft sei in der Psychedelika-Frage gespalten, stellt seinerseits der Psychiater Fabrice Godenir fest: „Die französischen Schulen bevorzugen Sprechtherapien, während in angelsächsischen Schulen interventionistische Methoden stärker verbreitet sind. Je nach Hintergrund ist man offener für diese neuen Ansätze.“ Eine Hürde für den Ausbau des Therapieangebots bleiben aber laut Godenir die Kosten: Eine Dosis Esketamin kostet rund 500 Euro. Hinzu kommt, dass ein freies Spitalbett sowie begleitendes Gesundheitspersonal benötigt werden.
Psychedelika verändern vorübergehend die Gehirnaktivität und können festgefahrene Denkmuster auflösen. Der Neurowissenschaftler Christof Koch geht in seinem 2024 erschienenen Buch Then I Am Myself the World davon aus, dass spirituell-mystische sowie Nahtod- und psychedelika-bedingte Erfahrungen wahrscheinlich demselben neurobiologischen Mechanismus unterliegen. Umgangssprachlich könnte man von einem heruntergedimmten Neokortex und Default-Mode-Netzwerk sprechen – einem Netzwerk miteinander verbundener Gehirnregionen, das besonders aktiv ist, wenn wir uns nicht auf die Außenwelt konzentrieren. Wird dieses Netzwerk nun stillgelegt, ist der Geist „free to contemplate the beauty of the world“. Sind solche Erfahrungen wichtig, um therapeutische Effekte zu verstehen? David Yaden und Sean Goldy schreiben, diese Frage werde derzeit virulent debattiert: Einige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, „dass die akuten subjektiven Wirkungen von Psychedelika nicht notwendig sind, um therapeutische Vorteile zu erzielen“. Unterschwellige neurobiologische Prozesse würden reichen, um Resultate zu erzielen und zu erklären. Im Gegensatz dazu würden viele rezente Arbeiten festhalten, dass akute subjektive Wirkungen eine „entscheidende Rolle“ für den dauerhaften Nutzen von Psychedelika spielen könnten – die Wirkung also von höheren neurobiologischen Abläufen gekoppelt an Sinngebungsprozesse abhängt. Demzufolge wäre was zählt, Stoff und Sinn, Materie und Bedeutung, die sichtbare und unsichtbare Seite der Wirklichkeit.