70 Jahre Nowa Huta: ArcelorMittal legt das berühmteste Stahlwerk Polens still

Requiem für Lenins Hütte

d'Lëtzebuerger Land vom 10.01.2020

Ob für den Schah von Persien oder Sowjetführer, De Gaulle oder Fidel Castro: Nowa Huta stand auf der Besuchsliste immer ganz oben, wenn früher Prominenz in die Volksrepublik Polen kam. Das gigantische Stahlwerk samt angeschlossener Modellstadt für 100 000 Proletarier sollte für den Kommunismus werben. Seit der Wende von 1989 ging es mit dem Vorzeigeprojekt bergab. Zum Jahresende hat nun der Stahlkonzern ArcelorMittal den letzten Hochofen in Nowa Huta „temporär außer Betrieb genommen“. Dass er jemals wieder angeblasen wird, ist nicht ernsthaft zu erwarten.

Arbeiter aus ganz Polen hatten ab 1949 in Rekordzeit die „Lenin-Hütte“ aus dem Boden gestampft, auf 1 000 Hektar einen Komplex mit hunderten Gebäuden. Fernab von Seehäfen, Erz- oder Kohlevorkommen war die zeitweise größte Hochofen-Anlage Europas nie besonders wirtschaftlich. Dafür rauchten ihre Schlote in Sichtweite der Kathedrale und des Königsschlosses von Krakau, der historischen Hauptstadt Polens.

Nowa Huta wurde tatsächlich zum Symbol, allerdings anders als geplant. Zwar wurden in den 1970-ern pro Jahr fast sieben Millionen Tonnen Stahl produziert, die verkündeten Ziele jedoch nie erreicht. Für die mit Zulagen, Ferienheimen und anderen Privilegien angelockte Elite der Arbeiterklasse wurden anfangs neoklassizistische Wohnblocks mit repräsentativen Fassaden gebaut – kurioserweise nach New Yorker Vorbildern. Bald reichte es aber nur noch für grausige Plattenbauten. Ein projektierter Rathaus-Wolkenkratzer wurde nie gebaut; die breite Zentralachse von Nowa Huta endet im Nirgendwo.

Ökologisch war das Stahlwerk ein Desaster, seine Abgase ruinierten Wälder und Baudenkmäler. Dem klerikal-konservativen Geist der Nachbarschaft konnte es dagegen wenig anhaben. Fromme Arbeiter ertrotzten nach jahrelangen Kämpfen 1967 den Bau einer ersten Kirche in der sozialistischen Musterstadt. Ihr Anführer, ein gewisser Karol Wojtyla, machte später als Papst Furore. Nowa Huta dagegen wurde sang- und klanglos nach Krakau eingemeindet.

Die „Lenin-Hütte“ war ein Zentrum der anti-kommunistischen Solidarnosc-Bewegung. Nach ihrem Sieg wurde das Stahlwerk nach dem Erfinder Tadeusz Sendzimir benannt und in ein Dutzend privater Betriebe aufgeteilt. Die umweltschädlichsten Teile wurden geschlossen. Im Jahr 2004 übernahm der indische Mittal-Konzern die Reste : Von einst zwölf Koksbatterien und fünf Hochöfen blieben zum Schluss noch jeweils eine Anlage, von mehr als 40 000 Jobs noch rund 3 500. Ein erst im Jahr 2007 errichtetes Walzwerk, das modernste Europas, soll nun auch weiterhin arbeiten. Etwa 2 000 Beschäftigte aber werden jetzt in Pension oder zu anderen Stahlwerken in Polen geschickt.

Die Mitte von Nowa Huta heißt heute nicht mehr „Stalinplatz“, sondern „Ronald Reagan Zentralplatz“, das Lenin-Denkmal wurde abgerissen, die Hauptstraße ist nach Papst Johannes Paul II benannt. Stahl bestimmt längst nicht mehr das Leben. Viele Pendler fahren mit der Tram in die nahe Altstadt von Krakau, die dank ausländischer Hilfe, besonders aus Norwegen, in neuem Glanz erstrahlt. Der Tourismus dort boomt: Alteuropäisches Flair, sauber, sicher, streikfrei und erst noch billiger als Paris – da fällt asiatischen Reisegruppen das Umbuchen nicht schwer. Allein das historische Salzbergwerk in Wieliczka, einem anderen Vorort von Krakau, hat im vergangenen Jahr über eine Million Besucher angezogen.

Ob wohl auch Nowa Huta einmal auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes kommt? Offiziell ist das Stahlwerk noch nicht endgültig geschlossen, sondern wartet bloß auf „verbesserte Marktbedingungen“. ArcelorMittal verweist auf weltweite Überkapazitäten und den Rückgang der deutschen Autoproduktion. Optimistisch ließ der Konzern zum 70. Geburtstag von Nowa Huta dennoch 70 000 Bäume pflanzen. Das Krakauer Stadtmuseum aber leistet im ehemaligen Kino der Stahlstadt schon Trauerarbeit: Eine neue Ausstellung zur Geschichte der „Lenin-Hütte“ ist ein veritabler Nachruf auf das einstige Zukunftswerk.

Ost und West im Rost vereint

Die Hütte von U.S. Steel in Gary bei Chicago war lange Zeit das größte Stahlwerk der Welt. Namensgeber des ab 1906 errichteten Standorts war der Konzerngründer Elbert H. Gary. Von der Kombination aus Fabriken und Arbeitersiedlungen war die sowjetische Führung so beeindruckt, dass sie ab 1929 von amerikanischen Beratern und deutschen Stadtplanern eine Kopie von Gary bauen ließ: das „Metallurgische Kombinat Magnitogorsk“. Der Zweite Weltkrieg wurde nicht zuletzt mit Stahl vom Ural gewonnen.

Magnitogorsk wiederum war ab 1949 das Vorbild für neue Stahl-Städte in den kommunistischen Staaten Osteuropas: Stalinstadt in der DDR östlich von Berlin und Sztálinváros bei Budapest wurden ab 1961 in Eisenhüttenstadt und Dunaújváros umbenannt. Nowa Huta bei Krakau, wörtlich „neue Hütte“, musste zur Entstalinisierung nicht umgetauft werden, denn das polnische „Stalinogrod“ war an die Stadt Katowice vergeben worden.

Die ehemalige „Lenin-Hütte“ in Nowa Huta wurde jetzt eingemottet. Die übrigen Stahlwerke produzieren heute sogar mehr als früher. Allerdings brauchen sie mittlerweile sehr viel weniger Arbeitskräfte. Entsprechend siechen und schrumpfen die einst prosperierenden Stahlkocher-
Städte. Am schlechtesten steht das kapitalistische Urmodell da: Gary hat mehr als die Hälfte seiner ehemaligen Bewohner verloren, und ein Drittel seiner Häuser steht leer – der „rust belt“ der USA zeichnet sich nun vor allem durch Armut und Arbeitslosigkeit aus. me

Zum Internet-Angebot des Rotterdamer New Town Institute gehört ein „alternativer Reiseführer“ zu Nowa Huta: newtowninstitute.org

Martin Ebner
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