Er habe den Eindruck, es herrsche schon Wahlkampf, sagte Jean-Paul Olinger, der Direktor der Union des entreprises luxembourgeoises, mit einem Seitenblick auf LSAP-Arbeitsminister Georges Engel. Das war am Donnerstag vergangener Woche, als eine „Kloertext“-Sendung im RTL-Fernsehen über die „Work-Life Balance“ diskutierte.
Olinger schien sich dort ein wenig lustig über Engel zu machen. Vor vier Wochen war der Arbeitsminister in der Abgeordnetenkammer unübersehbar eine politische Allianz mit seinem Vorgänger Dan Kersch eingegangen. Kersch, seit Januar Abgeordneter, hatte suggeriert, über eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung nachzudenken, auch wenn das nicht im Koalitionsprogramm steht. Engel kündigte dazu eine „Studie“ an, „um die Debatte zu objektivieren“. DP-Premier Xavier Bettel machte zwei Wochen später beim „Printemps des entreprises“ der Fedil klar, dass diese Debatte unter der aktuellen Regierung nicht stattfinden werde. „Wer eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung will, muss das in sein Wahlprogramm schreiben.“
So dass natürlich schon ein wenig Wahlkampf herrscht. Dan Kersch, Parteilinker und einer der begabtesten Strategen in der LSAP, nutzte die Gelegenheit, die sich aus dem von der Regierung Belgiens im März befürworteten Übergang zu einer Vier-Tage-Arbeitswoche im Nachbarland ergab. In Belgien gelte „übrigens“ die 38-Stunden-Woche, erklärte Kersch im Parlament. Und fügte hinzu, die 40-Stunden-Woche in Luxemburg könne „nicht so bleiben“.
So hatte es 2018 im LSAP-Wahlprogramm gestanden, das 38 Stunden versprach. Das Arbeitsrecht zu einem Wahlkampfthema zu machen, war ein ziemlich spektakulärer Schritt, denn diese Fragen werden überwiegend dem Sozialdialog überantwortet. Die 40-Stunden-Woche gilt in Luxemburg seit den Siebzigerjahren. In Kollektivverträgen kann weniger abgemacht werden, auf Betriebsenene auch. Doch das ist etwas anderes als eine Arbeitszeitverkürzung per Gesetz, die mit vollem Lohnausgleich einherginge. Das wäre eine generelle Umverteilung von Produktivitätsgewinnen. Spitzenkandidat Etienne Schneider wollte das so verstanden wissen: Die LSAP sei „ganz klar für ein Herabsetzen der Arbeitszeit bei gleichem Lohn“. Digitalisierung, Robotisierung und Künstliche Intelligenz erlaubten mit weniger Beschäftigten steigende Produktivitätsgewinne. Es könne „nicht sein, dass dies bloß den Unternehmern zugutekommt“ (d’Land, 10.8.2018).
Auf das Wahlversprechen von damals will die LSAP nun zurückkommen. Auch wenn sie es vorsichtig tut, um den Koalitionsfrieden nicht zu gefährden. „Ech si keen Hond am Keelespill!“, beteuert Georges Engel gegenüber dem Land. Er habe natürlich verstanden, was der Premier von einer allgemeinen gesetzlichen Arbeitszeitverkürzung hält. Im Koalitionsvertrag sei jedoch abgemacht, „über die Organisation der Arbeitszeit zu reden“. Dem werde die Studie dienen und „genaue Daten“ liefern.
An genauen Daten fehlt es offenbar. Kommen Georges Engel und Dan Kersch auf die Arbeitszeit zu sprechen, zitieren sie ältere Angaben oder Sekundärliteratur. Im Parlament verwies Engel auf ein Statec-Papier von 2019. Ihm zufolge lag die durchschnittliche Jahresarbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte in Luxemburg bei 1 701 Stunden. In Deutschland waren es 1 617, in Frankreich 1 544, in Belgien 1 495 Stunden. Der Unterschied gegenüber Belgien entspreche 26 Arbeitstagen, resümierte der Arbeitsminister.
Dan Kersch las aus einer rezenteren Erhebung der österreichischen Wirtschaftskammer vor. Darin sind die Unterschiede, verglichen mit Luxemburg, zum Teil größer, zum Teil kleiner: Die Rede ist von 1 574 Jahresstunden in Deutschland, 1 610 in Frankreich, 1 746 in Belgien und 1 791 hierzulande. Der Durchschnitt in der Eurozone betrage 1 672 Jahresstunden.
Dass der Minister und sein Vorgänger Vergleiche mit den Nachbarländern ziehen, fällt auf. Sie könnten auch davon sprechen, dass laut EU-Statistikamt Eurostat im Jahr 2021 bei Vollzeitarbeitskräften in Luxemburg die durchschnittliche Wochenarbeitszeit 41,2 Stunden betrug. Im wirtschaftlich starken Teil Europas war sie nur in Schweden (41,6), Österreich (41,8) und der Schweiz (43,3) noch länger. Der Verweis auf die Nachbarländer aber soll das Thema auf eine höhere Ebene befördern: Ehe vielleicht im Wahlkampf wieder vom sozialen Fortschritt und der Verteilung von Produktivitätsgewinnen die Rede sein wird wie 2018. Heute versuchen Engel und Kersch die Arbeitszeit zum Standortfaktor zu erklären. Luxemburg müsse „attraktiv bleiben“, sagt Engel. „Wir wollen ja Talente anziehen.“ Vielleicht aber kämen Belgier, Französinnen oder Deutsche bei der Betrachtung der Luxemburger Arbeitzszeit zu dem Schluss, sich lieber im Heimatland eine Stelle zu suchen. Der im Stau verbrachte Arbeitsweg falle ebenfalls ins Gewicht.
Angesichts des Zerwürfnisses mit dem OGBL über das Tripartite-Abkommen und den Index kann die LSAP ein Thema, das eine Versöhnung mit der größten und ihr traditionell nahestehenden Gewerkschaft bringen kann, gut gebrauchen. Vielleicht wagt Georges Engel sich deshalb ziemlich weit vor für einen Arbeitsminister, der eigentlich den Koalitionsvertrag exekutieren soll. Über die geplante Studie sagte er dem Luxemburger Wort am 13. Mai in einem Interview: „Das Ziel ist ganz klar eine Arbeitszeitreduzierung. Zu klären bleibt, wie sie gestaltet wird.“ Und obwohl in Belgien 26 Tage weniger gearbeitet würden als in Luxemburg, liege Belgien „ökonomisch nicht am Boden“.
In Unternehmerkreisen stößt so etwas auf: „Da wird ein Ziel verfolgt, das nicht im Koalitionsvertrag steht“, klagt UEL-Direktor Olinger gegenüber dem Land. „Da soll mit öffentlichen Mitteln eine Studie bezahlt werden, die der LSAP im Wahlkampf behilflich ist.“ Die Debatte um eine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung jetzt schon sei etwas, „das wir überhaupt nicht brauchen“. Wo sich in den Betrieben die Arbeitszeit verkürzen lasse, könne man das tun und werde das gemacht. Sie generell zu verkürzen, würde viele Betriebe vor kaum überwindbare organisatorische Probleme stellen: „Dann wird mehr Personal gebraucht. Wir haben aber so gut wie Vollbeschäftigung. Wie soll das gehen?“
Das ist der Hintergrund, vor dem seit über 20 Jahren eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung für nicht durchführbar erklärt wird. 1998 hatte ein Tripartite-Abkommen eine Flexibilisierung der Arbeitszeit abgemacht. Den Gewerkschaften wurde als Gegenleistung eine Arbeitszeitverkürzung versprochen. Doch dazu war anschließend keine Regierung bereit. Kürzere Arbeitszeiten heißen seither „flexiblere Arbeitszeiten“. Sie können auf Betriebs- oder Branchenebene ausgehandelt werden und werden in einem Arbeitszeit-Organisationsplan (Pot) untergebracht. Wohin genau das bisher geführt hat, weiß allerdings nicht mal der Minister: Das Forschungsinstitut Liser sei dabei zu untersuchen, welche Auswirkungen die letzte Aktualisierung des Pot-Gesetzes 2016 hatte. „Bisher wurden 130 Betriebe analysiert, soviel ich weiß“, sagt Georges Engel.
Beim OGBL macht man sich nicht viele Illusionen, dass schon demnächst eine Diskussion über eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich in Gang kommt. „Dass das Thema politisch aufgegriffen wird, ist natürlich zu begrüßen“, sagt Frédéric Krier, der in der OGBL-Exekutive für Arbeitspolitik zuständig ist. „Aber zunächst wurde eine Studie versprochen. Das wird etwas für die nächste Regierung.“ Krier erinnert sich daran, dass der OGBL im Wahlkampf eine sechste gesetzliche Urlaubswoche gefordert hatte. Heraus sprangen unter der neu aufgelegten DP-LSAP-Grüne-Koalition ein 26. gesetzlicher Urlaubstag und ein weiterer Feiertag am 9. Mai. Krier weiß, dass das Thema Arbeitszeit komplex ist: In den geltenden Kollektivverträgen wird die Arbeitszeit auf „Referenzperioden“ berechnet, die von einer Woche bis zwölf Monate reichen. Standard ist laut Gesetz ein Monat. Seit 2016 müssen zusätzliche Urlaubstage als Ausgleich gewährt werden, wenn vom Standard abgewichen wird. „Die allermeisten Betriebe sind bei einem Monat geblieben“, sagt Krier. So dass eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung, falls sie käme, den Rahmen ändern und die Referenzperioden anpassen müsste, die ein Konzept aus der EU-Arbeitszeitrichtlinie sind.
Politisch wird die Arbeitszeitdiskussion neuerdings als Frage der „Work-Life Balance“ gesehen. Das klingt schick, ein bisschen esoterisch und nicht nach Klassenkampf um Produktivitätsgewinne. Jeder kann damit einverstanden sein. Auch die DP, die nichts von Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich wissen will. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Georges Engel am vergangenen Donnerstag antwortete Familienministerin und DP-Präsidentin Corinne Cahen auf die Frage des Land, was sie von Engels Überlegungen zur Arbeitszeitverkürzung halte, „meine Herzensangelegenheit war die Reform des Elternurlaubs“, die 2016 erfolgte. Das habe sie schon so gesehen, als sie als Unternehmerin noch Mitglied der Handelskammer war.
Tatsächlich scheint vor allem in der Altersklasse der Dreißiger das Empfinden verbreitet zu sein, zu viel zu arbeiten. In dem von der Universität Luxemburg für die Arbeitnehmerkammer berechneten Quality of Work-Index werden die Studienteilnehmer seit 2018 auch gefragt, ob ihre tatsächliche Arbeitszeit ihrer „Wunscharbeitszeit“ entspricht. „Ein wachsender Teil der Befragten sagt Nein“, erklärt Philipp Sischka, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Verhaltens- und Kognitionsforschung der Uni. Habe 2018 ein Drittel der Befragten mit Nein geantwortet, seien es seither stetig mehr. Knapp 44 Prozent waren es 2021. „Dabei äußern sich vor allem Frauen und Personen in der Gruppe der 35- bis 44-Jährigen so“, sagt Sischka. Er nimmt an, es handele sich um Menschen in den Dreißigern, die Beruf und Familie miteinander in Einklang bringen müssen, und dass dies deutlicher würde, wenn man die Altersgruppen anders festlegt.
Der Quality of Work-Index liefert aber noch andere Ergbenisse: Wer weniger arbeiten will, will häufig deutlich weniger arbeiten. Der Median der gewünschten Arbeitszeitreduzierung lag 2021 bei fünf Stunden: Die eine Hälfte der in Frage Kommenden würde um mehr als fünf Stunden reduzieren wollen, die andere Hälfte um höchstens fünf Stunden oder weniger. Und: Unter für den Index befragten Grenzpendlern war jeder zweite Belgier sowie jeder dritte Franzose der Meinung, zu viel zu arbeiten.
Ob das allein mit der als zu lang empfundenen Arbeitszeit zu tun hat oder mehr mit dem langen Weg nach Luxemburg, ist die Frage. Ob das als Wettbewerbsnachteil für den Standort aufgefasst werden kann, auch. Je nachdem, wie nächsten Monat in Frankreich die Legislativwahlen ausgehen, könnte dort der Mindestlohn erhöht werden. Zusammengenommen mit der 35-Stunden-Woche und dem Stop-and-Go auf der A3 Richtung Großherzogtum, würde Frankreich vielleicht interessanter als Arbeitsort.
Vielleicht wird die Studie für den Arbeitsminister nähere Aufschlüsse geben. Wann sie vorliegen und wer sie erstellen soll, ist noch unbekannt; das Ministerium schreibt noch am Lastenheft für den Auftrag. Viel zu untersuchen gibt es durchaus. Zum Beispiel auch, wie die vor zwei Jahren im Privatsektor eingeführten Arbeitszeitkonten sich auswirken. Das Instrument ist so neu, dass auch der Minister nicht auf Anhieb sagen kann, wie es sich in der Praxis bewährt. „Ich kann das aber raussuchen lassen.“ Am Ende wird es vor allem an der LSAP sein zu entscheiden, was sie aus der Studie macht. Und ob sie, falls sie erneut die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich verspricht, dies zu einer „roten Linie“ für eventuelle Koalitionsverhandlungen erklärt. 2018 sah sie davon ab. So dass es für die Schuld der Wähler oder der Koalitionspartner gehalten werden konnte, dass sich an der 40-Stunden-Woche nichts änderte. 2023 könnte es so sein, dass die anderen Parteien gezwungen werden, sich zu positionieren. Darin dürfte das Kalkül Dan Kerschs bestehen. Dem UEL-Direktor schwant nichts Gutes. „Wir haben immerhin auch Krieg!“