Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn

Die Geometrie der Justiz

d'Lëtzebuerger Land vom 25.09.2020

Ein Jahrhundert lang betrachtete die CSV die Verfassung als Vereinssatzung des CSV-Staats. Ist sie, wie im Augenblick, verhindert, diesen zu regieren, will sie auch jede Satzungsänderung verhindern. Deshalb verschleppte sie bis zu den Wahlen 2018 eine allgemeine Verfassungsrevision. Wider Erwarten verlor sie erneut die Wahlen. Also boykottiert sie mit ihrer Sperrminderheit eine weitere Legislaturperiode lang die Revision.

Die bewährte Allegorese der verzopften Verfassung je nach politischem Bedarf verwirrt inzwischen. Die rechtliche Definition der herrschenden Verhältnisse muss präziser werden. Deshalb einigten sich Regierungsmehrheit und CSV darauf, ihr „Jahrhundertwerk“ einer großen Revision abzublasen und die Verfassung diskret Kapitel für Kapitel anzupassen. Das war zudem der lang gesuchte Vorwand, um das für den Fall einer Gesamtrevision versprochene Referendum abzusagen. Niemand glaubte mehr an einen glücklichen Ausgang eines solchen Referendums.

Das Verfassungskapitel über die Justiz soll zuerst geändert werden. Vor der Sommerpause brachte der Grevenmacher CSV-Bürgermeister Léon Gloden das Justiz-Kapitel aus dem großen Revisionsentwurf als eigenständigen Textvorschlag ein. Die Einführung eines Conseil national de la Justice wird darin die größte Neuerung genannt. Zur Betonung der Gewaltentrennung soll anstelle des Justizministers der neue Nationalrat die Richter ernennen. Anfangs sollte eine

breitere Zusammensetzung dieses Rats die Justiz etwas demokratisieren. Die Richter verteidigten erfolgreich die Antinomie: ihre Unabhängigkeit. Sie dürfen nun die Mehrheit im Conseil bilden.

Zum Ausgleich kippte der parlamentarische Ausschuss der Institutionen und Verfassungsrevision noch schnell den Satz über die Staatsanwaltschaft: „Il est indépendant dans l’exercice de ces fonctions.“ Die Staatsanwaltschaft entscheidet über die Aufnahme oder Einstellung einer Strafverfolgung und fordert in einem Prozess die Verurteilung und das Strafmaß. Liberalere Abgeordneten wollten ihr vertrauen, dass sie aus eigenem Antrieb die „öffentliches Interesse“ genannte Staatsräson durchzusetzen versteht. Konservativere Abgeordnete fanden es sicherer, wenn die Regierung weiter über den Justizminister und dieser über die Staatsanwaltschaft auf die Justiz einwirken kann. Etwa um im Namen von Law and Order härter gegen Kleinkriminelle durchzugreifen oder sich über den Fortgang politisch heikler Ermittlungen besorgt zu zeigen.

Zur Abrundung sieht der Entwurf vor, dass die Kompetenzen des Verfassungsgerichts künftig durch Gesetz mit qualifizierter Mehrheit ausgeweitet werden können. Damit die Justiz sich verstärkt in die Vorrechte des Parlaments einmischen kann, wenn dieses die erwünschte Mäßigung vermissen lässt. Vor über einem Jahrzehnt hatte der damalige CSV-Berichterstatter Paul-Henri Meyers vorgeschlagen, die Gewaltentrennung in die Verfassung zu schreiben. Er fand keine Mehrheit. Die Gewaltentrennung ist kein Dreieck, wie die Lehrbücher behaupten, sondern ein Pantograf.

Romain Hilgert
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