Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn

Digitale Händschemanik

d'Lëtzebuerger Land vom 28.08.2020

Über den im Internet abgehaltenen Kongress der DP am 15. Juni schrieb Le Quoti-dien: „Donc le télétravail était la grande vedette de ce show virtuel et interactif.“ Die Liberalen wollten schon 2018 in ihrem Wahlprogramm „gelegentliches oder regelmäßiges Arbeiten von zuhause stärker fördern“. Nun freuen sie sich, dass Covid-19 vollendete Tatsachen schafft. Dank der Seuche lässt sich das Homeoffice schneller und gründlicher durchsetzen als sie hofften. Heimarbeit sei produktiv, ökologisch und familienfreundlich, warb Präsidentin Corinne Cahen. Heimarbeit hat Zukunft.

Dabei hat Heimarbeit eine Vergangenheit. Bis zur Mechanisierung ließ die Textilindustrie hierzulande in Télétravail spinnen und weben. Die Handschuh-industrie ließ jahrzehntelang im dörflichen Homeoffice produzieren. „En effet, deux et même trois mille personnes, selon les saisons, trouvent leur existence dans la ganterie ; ce sont en majeure partie des femmes, qui travaillent à domicile et peuvent ainsi en même temps surveiller leur ménage et soigner leurs enfants“, schrieb die Handelskammer 1862 in ihrem Jahresbericht.

Die Händscheschnidder holten jede Woche bei den Verlegern Lippmann, Godchaux oder Reinhard ihre Ration Felle ab, die sie nach Hause schleppten, um sie zu enthaaren und zu glätten. Die Händschefraen nähten daheim die zugeschnittenen Handschuhe an der Händschemanik. „Kein Stich durfte daran falsch sein, nicht das geringste Fleckchen durfte den Luxusgegenstand verunzieren, was bei der Kinderschar nicht immer zu vermeiden war. Dann war die Näherin gezwungen, von ihrem kargen Lohn (3-12 Sous pro Paar) Strafe zu zahlen“, erinnerte sich 1939 Oberlehrer Hary Trauffler in Der Kanton Capellen Festschrift. Ohne die Heimarbeit, schätzte der Volkskundler Joseph Hess, „wär Honger geschmolt ginn. D’Kanner si mat agesat gin“ (Bei eis doheem, 1983).

Die Handschuh- und die Textilindustrie hielten sich ein kostengünstiges Dorfproletariat aus Tausenden von landlosen Familien und Tagelöhnern. Die Unternehmer sparten Investitionen in Fabriken und Werkstätten, die Arbeiterinnen mussten selbst für ihren Arbeitsplatz aufkommen. Statt an begrenzte Arbeitszeiten gebundene Löhne zahlten die Verleger nur für die Fertigprodukte. Die Arbeitszeiten zu Hause waren unbegrenzt. Nebenbei vereitelte die Heimarbeit das Aufkommen gewerkschaftlicher Solidarität am Arbeitsplatz. Die Händschefraen waren Scheinselbständige wie Sushi-Boten und Uber-Fahrer.

Nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch manche Unternehmer beobachten die Begeisterung der Liberalen für die Heimarbeit mit gemischten Gefühlen. Vielleicht ist sie die dumpfe Sehnsucht nach der Rückkehr der goldenen Zeit des Liberalismus. Wenn der versprochene eine Tag Homeoffice pro Woche nur der Anfang sein wird. Wenn am Ende die Wiedereinführung des Verlagswesens steht mit Scheinselbständigen, die in ihren eigenen Wohnzimmern im Akkord arbeiten, digital, ohne Lohnnebenkosten und vorzugsweise in Lothringen.

Romain Hilgert
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