Luxemburgensia

Prostituierte, Mörder und Taxifahrer

d'Lëtzebuerger Land vom 17.07.2020

Berlin, 2018: Am Flughafen Tegel geht eine Bombe hoch. Der Anschlag ist der erste einer mörderischen Reihe, die auf die Stadt niedergeht. In dem Chaos kreuzen sich die Existenzen von drei Figuren, zufällig und unauflöslich. Leon, gerade mit einem eigenen, düsteren Plan in Berlin gelandet, stirbt an seinen Verletzungen, und Eduard ergreift die Gelegenheit beim Schopf und schnappt sich dessen Papiere. Er selbst wollte die Stadt eigentlich verlassen, aber mit seiner neuen Identität kehrt er zurück ins Moloch Berlin. Auf den Spuren von Leon, von dem er eigentlich nur das Geld und den Namen will, recherchiert Eduard über seine neue Identität, liest ein Manuskript auf Leons Computer und vertieft sich allmählich in dessen „Theorie der Kadaverisierung”, der zufolge alles vor die Hunde geht, unweigerlich und als einziger Zweck – Menschen, Beziehungen, die Gesellschaft. Er erfährt, dass Leons Leben nicht geradlinig verlief, sondern steil bergab führte. In Berlin sollte er Amelie treffen, eine Fotografin mit einem Hang zum Morbiden, die im Darknet unter dem Namen Proserpina nach der Erfüllung und Sublimierung ihrer Todessehnsucht sucht ...

Der Autor Fernand M. Guelf greift in seinem neuen Roman typische Themen seiner vorherigen Texte auf: Die brodelnde Großstadt wird zum Begegnungsort von Figuren, deren Werdegang und Handlungen von Hoffnungslosigkeit und Widerstand, Hass und Wissensdrang gezeichnet sind. Für sie scheint der Weg allein und unweigerlich ins Extreme, in die Perversion zu führen. Wie in Ich kann nur am Anfang oder am Ende der Welt leben (Passagen Verlag 2013) löst die Lektüre von mysteriösen, geheimen Aufzeichnungen bei einem der Protagonisten eine zerstörerische Abwärtsspirale aus. Und auch das erzählte, zeitgenössische Berlin selbst steht kurz vor dem Absturz: Nachrichten von Anschlägen peitschen durch die Stadt, der Tod und das Verkommene sind allgegenwärtig. Die Großstadt, der Gegenentwurf zu einer Welt, die „eine Mischung aus Dorf und Land, aus Kleinstadt und Träumen” (14) ist, in der Eduard aufgewachsen ist, wird zum Schmelztiegel des Bösen und Verdorbenen, wo ein Cocktail aus Prostituierten, Mördern und Taxifahrern in abgrundtiefer Wertelosigkeit und Todessehnsucht köchelt. Es sind gute Zutaten, die der Roman aufdeckt – interessante Figuren mit dunklen und einzelgängerischen Leben und abseitige, deviante Themen. Die Figuren feiern – 100 Jahre nach Freud – den Todestrieb als revolutionäre Freiheit, als neues Maß, das Gut und Schlecht, Richtig und Falsch aushebelt.

Durch die rasanten Perspektivwechsel, die Rückblenden, die Schnipsel des Abscheulichen, werden die psychischen Abgründe der Figuren deutlich. Ihr bisheriges Leben ist eine Antürmung des Bösen, scharf und krass wie in Sibylle Bergs Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot, doch trotz der Rasanz und Absonderlichkeit bleiben die Figuren programmatisch. Eduard vertieft sich zunehmend in die dunkle Welt von Leon. Amelies innere Verzweiflung wird in ihren Überlegungen zur Vergänglichkeit und zur Fotografie klar. Jede neue Figur, so schrecklich-schauerlich und einzigartig sie ist, jede Begegnung führt jedoch vor allem zu einer weiteren Exposition statt zur Handlung.

In Ausnahmezustand fehlt es an Aktion, die mit dem von den Figuren empfundenen Schrecken mithalten könnte. Es ist der Rhythmus, der Perspektivwechsel, der Geschwindigkeit vorgibt, nicht die Attentate, nicht die Handlung. Dabei scheint Terror in dieser angstgepeitschten Gegenwart eine reale Gefahr zu sein. Doch die Bedrohung bleibt schattenhaft, sine causa, grummelt im Text atmosphärisch vage im Hintergrund, wird nicht erklärt und bleibt im Endeffekt dadurch unwichtig für die Protagonisten. Ein Kunstgriff vielleicht, der sie jedoch aus dieser erzählten Welt herauslöst und ihre Figuration ausstellt. Und so bleiben die die Hauptschauplätze isoliert, oft nur Orte der Reflektion und Introspektion, statt der Begegnung (wie z.B. Eduards Hotelzimmer).

Es ist eine traurige, skrupellose Welt, die sich in diesem finsteren Buch zwischen Thriller und Wertekrise entfaltet, erstaunlich böse und bemerkenswert verkommen. Ausnahmezustand ist kein wirklich rundes Werk, dafüfr fehlt es an Handlung. Aber der Roman besticht durch die messerscharfe Sezierung seiner Figuren, die innerste Abgründe freilegt.

Fernand M. Guelf: Ausnahmezustand. Roman. Passagen Verlag 198 Seiten. 22,60 Euro.

Claire Schmartz
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