Einen Blick auf das Palmarès der 13. Ausgabe des LuxFilmFests geworfen und man versteht, dass hier viele fiktive Figuren elektrische Träume haben, nicht nur jene in dem mit dem Grand Pix der Jury prämierten Film Tengo sueños eléctricos (I Have Electric Dreams) von Valentina Maurel. Nur wenige Stunden nach einer unterkühlten, mittelspannenden sogenannten Masterclass vergab Jurypräsident und zweifacher Oscar-Gewinner Asghar Farhadi den mit 10 000 Euro dotierten Preis an den genannten Erstlingsfilm der in Costa Rica gebürtigen und in Belgien lebenden Regisseurin. Ein alles andere als gewöhnlicher Coming-of-Age-Film, der sich in seinem Portrait einer sexuell überforderten Jugendlichen und ihrer Beziehung zu ihrem frisch getrennten und liebevoll-gewalttätigen Vater vor nichts scheut. Maurel führt zwei wunderbare Darsteller mit einer sensiblen Schauspielführung durch die Geschichte, in der oberflächlich betrachtet nicht allzu viel passiert. Beiden Figuren gibt sie antipathische Züge – vor allem der Vaterfigur –, verbietet jedoch sich und ihrer Kamera jeglichen verurteilenden Blick. <br/>Der andere große Gewinner des Abends war der iranische Wettbewerbsbeitrag World War III von Houman Seyyedi. Während die ganze Welt gerade das Kino wieder feierte – Stichwort Oscars –, und einen kinematografischen Liebesbrief nach dem anderen verfasst (wobei Leonor Will Never Die der phillipinischen Regisseurin Martika Ramirez Escobar ein persönlicher Favorit des Fests war), schreibt Seyyedi einen Hassbrief auf ebendiese Maschinerie, die in Hollywood dafür bekannt ist, Traumstoff zu entwickeln. Es sind Albträume, wenn man dem Iraner Glauben schenken darf. In seinem Film wird aus einem armen Tagelöhner, der sich eines Tages am Set eines Film wiederfindet, um dort das Szenenbild eines KZs aufzubauen, nur wenige Tage später ganz spontan eine leitende Hauptrolle. Und welche Rolle soll er ersetzen? Die des Adolf Hitler. World War III startet wie eine bitterschwarze Komödie, die dem Zuschauer irgendwann die Gurgel durchschneidet und zu etwas ganz Anderem mutiert. Ein einzigartiger Kinoentwurf, bei dem das Kino nicht allzu gut davonkommt, und auch die Menschlichkeit dabei auf der Strecke bleibt. World War III erhielt nicht nur den Preis der FIPRESCI-Kritik, sondern ganz überraschend auch den Young Jury Preis. <br/>Das mit luxemburgischen Geldern unterstützte Kino konnte am Samstag mitfeiern. Totem konnte ebenfalls gleich zwei Preise einheimsen: den Preis der Kinder- sowie den der Schul-Jury. Der Film erzählt die Geschichte eines Mädchens mit senegalesischen Wurzeln, die sich eines Tages auf die Suche nach ihrem Vater machen muss, in der Hoffnung, seine Abschiebung zu verhindern, in Rotterdam und mit einem übergroßen Stachelschwein im Schlepptau. Der Film, eine Tarantula-Koproduktion, wird am 29. März in den Kinos starten. Die von Iris Productions unterstützte kolumbianische Filmproduktion The Kings of the World, die eine handvoll wilde Jungs im Zentrum hat, die, wie die Regisseurin sagt, auf dem Weg zum verheißenen Land sind, erhielt den 2030 Award by Luxembourg Aid & Development. Ein wunderschönes Portrait einer vielleicht verlorenen Generation, mit zum Teil politisch agitatorischen Zügen. Anfang April wird der Film im Kontext der Festivalverlängerung LuxFilmLab gezeigt, um wenige Wochen später einen regulären Kinostart zu erhalten. <br/>Die auf den ersten Blick bestialisch anmutenden chirurgischen Eingriffe, denen man im Dokumentarfilm De Humani Corporis Fabrica Zeuge wird, sind Menschenleben-rettende. Das Regieduo hinter diesem Film, der den Doku-Preis einheimsen konnte, liefert keine Schockmomente rein der Schocks wegen, sondern hebt die ästhetische und vor allem poetische Seite des Krankenhausalltags hervor, so krude sie anfangs zu sein scheint. Wenn es im Kino um Körper geht, wie es immer wieder behauptet wird, dann arbeitet der Film diesen Aspekt aus, wie zuvor keiner. Ausser vielleicht Stan Brakhage. Der Frühling kommt erst bald, aber De Humani Corporis Fabrica ist wahrscheinlich die Kinoerfahrung des Jahres.
Tom Dockal
Kategorien: Festivals, Kino
Ausgabe: 03.03.2023