Spiritualität ist mehr als Werteorientierung oder eine Offenheit gegenüber Transzendenz. Man kann sie vielmehr als die Art und Weise verstehen, wie der Mensch die gegenseitigen Beziehungen von Göttlichem, Weltlichem und sich selbst gestaltet – und dies gemäß zweien Prinzipien: erstens so, dass alles, was ist, das sein kann, was es ist; zweitens so, dass es sich zugleich im angemessenen Verhältnis zu allem anderen, was ist, befindet. Insofern Spiritualität davon ausgeht, dass der Mensch immer schon in Beziehungen lebt, widersetzt sie sich nicht nur jeglichem Individualismus, sondern strebt eine bestimmte Art und Weise des So-Seins in der Welt an. Spiritualität umfasst deshalb auch die nötigen Mittel, mit denen der Mensch befähigt wird, die angemessene Haltung einzuüben und sich selbst nicht mehr als Maßstab anzusehen.
Es gibt genügend Kritik, die das Christentum als Ursprung der ökologischen Krise ansieht. Tatsächlich hat die Industrialisierung sich in christlich geprägten Kulturen entwickelt, und sicherlich hängt sie auch damit zusammen, dass das jüdisch-christliche Denken die Welt „entzaubert“ hat. Es lässt sich aber mit guten Argumenten bestreiten, dass der Satz, die Menschen sollen sich die Erde untertan machen, die Wurzel allen Übels sei. Über diese Aspekte wurde an der Urban Garden Ausstellung (LUGA) lebhaft diskutiert. Da sich die LUGA „als Denkfabrik unter freiem Himmel, als Austausch- und Erprobungsplattform“ versteht, wollte sich die Luxembourg School of Religion & Society (LSRS) einbringen und veranstaltete neben einer Podiumsdiskussion mit Vertretern verschiedener Religionsgemeinschaften am 22. September einen Studientag zum Thema „Schöpfung, Autonomie und Verantwortung“.
Der Mensch in der Schöpfungsordnung
Zunächst unterstrich Marie-Anne Vannier (Theologin, Université de Lorraine), dass die Kirchenväter die Menschen als Beziehungswesen verstehen. Sie erleben die Schönheit der Schöpfung, nicht nur in dem, was wir heute als Natur bezeichnen, sondern in Freundschaft, Verzeihen und unbedingter Liebe, die im Licht des Glaubens als Präsenz Gottes und als Auftrag verstanden werden.
Auch Thomas von Aquin bewundert die Ordnung des Kosmos und versteht den Menschen als Teil dieser Ordnung, die er sich nicht selbst gibt. Doch, so Marta Borgo (Philosophin, Commission léonine, d. h. die Arbeitsstelle für die kritische Edition der Werke des Hl. Thomas v. Aquin), besteht die Vollendung des Menschen in einem Zustand, wo der Mensch Gott von Angesicht zu Angesicht schaut. Weder Tier noch Natur finden hier ihren Platz.
Klaus von Stosch (systemat. Theologie unter besonderer Berücksichtigung gesellschaftlicher Herausforderungen, Universität Bonn) bot eine originelle Auslegung des Noah-Bundes in Gen 9 an, die es ermöglichte, die Mensch-Tier-Beziehungen anders zu denken. Er hob hervor, dass in diesem Text nicht nur der Mensch eine naephaesch (hebr., Seele) habe, sondern auch die Tiere. Daraus ergebe sich, dass der Mensch nicht beliebig über sie verfügen könne; sie seien vielmehr Teil des Bundes, den Gott mit Noah schließt – also Partner.
So findet man das Lamm, das der Hl. Franz von Assisi vom Metzger loskaufte, auf dem Porträt, das Maxim Kantor lebensgroß von ihm gemalt hat. In paradiesischem Frieden kommuniziert der Hl. Franz mit der gesamten Schöpfung, denn er ist der gänzlich empathische Mensch, weil er von einer Liebe zu allem Geschaffenen erfüllt ist.
Von anderer Art sind jedoch die als Paradiese bekannten ummauerten Gehege, in denen Herrscher jagen konnten, ohne dass ihnen jemals das Wild ausging. Hier ist das Paradies ein illusorisches, ja falsches Schlaraffenland, das auf der Idee der ungestraften und reuelosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen basiert, um einen Herrschaftsdrang zu stillen. Die Umweltgeschichte, die Grégory Quenet (Umweltgeschichte, UVSQ Paris Saclay) untersucht, deckt mehr als nur eine destruktive Auslegung oder Aneignung des christlichen Erbes auf, wo die Heilige Schrift dazu diente, menschliche Hybris zu rechtfertigen, statt Bekehrung zu fordern.
Von den Blumen her, die die Kleider zieren, erarbeitete Alberto F. Ambrosio (Geschichte und Theologie der Religionen, LSRS) sich einen Zugang zur Mode und ihrer umweltschädlichen Massenindustrie. Er vergleicht Mode mit dem Garten, aus dem die Rose zum Sinnbild wird; an ihr zeigt sich, wie sich der Mensch an seiner künstlichen Welt entzückt und dabei vergisst, wie er in Wahrheit ist. Kann er aus dem falschen Paradies in den Garten zurückkehren?
Im Anschluss an Alberto F. Ambrosios Ausführungen könnte man als Gegenpol zur modischen Selbstdarstellung auf Ordensgewänder verweisen. Von hier bekommt man einen Blick auf die Art und Weise, wie Spiritualität sich als geistlicher, körperlicher und gemeinschaftlicher Prozess entfaltet, dessen Elemente während des Studientags aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wurden.
Leben wie im Paradies?
Wer ein Ordensgewand trägt, bekennt sich dazu, in der Nachfolge Christi zu stehen, um ein neuer Mensch zu werden und Beziehungen zu allem, was ist (integrale Perspektive), neu zu gestalten. Deshalb kann man sagen, es ginge darum, ein Leben wie im Paradies anzustreben. Aber es gibt keinen Weg in die Vergangenheit. Das Paradies liegt vor uns, jedoch nicht in dieser Welt. Es ist die Vollendung der Gemeinschaft von allem, was lebt – über den Tod hinaus in Gott. Daran kann der Mensch in diesem Leben bereits Anteil haben. Doch muss der „alte Mensch“ sterben … Das geschieht in der Taufe; dort wird der neue Mensch aus dem Wasser und Geist geboren (vgl. Joh 3,5). Hier erhält der „Neugeborene“ bereits ein neues Gewand.
Im Alltag weisen Ordensgewänder darauf hin, dass man zu einer Gemeinschaft gehört. Sie gestaltet Lebensräume um: Man könnte den Klostergarten als das erlöste Pendant zum Jagdparadies ansehen, das Quenet vorgestellt hatte. Die Gemeinschaft ernährt sich anders: Ordensleute folgen einer Diät, die recht fleischarm ist und auch dazu anleitet, die Begierde zu zügeln.
Die Gemeinschaft folgt einer Regel, um sich in das „neue Leben“ einzuüben (vgl. die großen Ordensregeln wie jene des Hl. Benedikt oder auch die Exerzitien des Hl. Ignatius von Loyola). Für Franziskus sollte die einzige Regel das Evangelium Jesu Christi sein. Um einer solch radikalen Nachfolge willen entblößt Franziskus sich vor seinem Vater, macht sich frei. Seine Gemeinschaft trägt auch den Namen „der minderen Brüder“ – es geht um Selbstdemütigung, nicht Selbstverwirklichung im heutigen Sinn. Hybris ade!
Sein Ordensgewand, eine einfache Kutte, ist zugleich Zeugnis von diesem Ideal und Instrument, um sich darin einzuüben. Es verändert die Art, wie die, die es tragen, in der Welt erscheinen. Das Ordensgewand widersteht nicht nur dem Individualismus, dem Konsumdrang und der wechselnden Mode; es ist auch Zeichen der Buße: Es verkörpert eine Haltung, die nicht nur die eigenen Sünden, d. h. die Zerstörung der angemessenen Beziehungen, bereut, sondern sich vor Gott demütigt, um für die Sünden aller um Vergebung zu bitten.
So übt der Körper sich in das neue Leben ein, aber auch der Geist. Thomas’ Theologie ist keine rationalistische Haarspalterei, sondern der Versuch, sich intellektuell das anzueignen, was er im Glauben erfasst hat, und dadurch den Prozess der Umkehr zu unterstützen. Das tut er in Auseinandersetzung mit seiner Welt. Thomas ist jedoch zuerst ein Mensch, der in der Liturgie Gott lobt und im persönlichen Gebet sich ihm überantwortet.
Keine Veränderung ohne beständige Einübung
Das, was sich hier zeigt, ist, wie christliche Spiritualität sich nicht in Diskursen erschöpft, sondern den Menschen in geregelte Lebensgemeinschaften einbindet und ihm die Mittel gibt, das, was er als Werk Gottes oder als Gnade versteht, zu unterstützen.
Viele fordern heute ein Umdenken, und sie haben Recht. Aber umdenken reicht nicht. Es braucht einen anderen Lebensstil, der sich jedoch nicht auf einen Aspekt konzentriert, sondern immer die Gestalt des Ganzen vor Augen behalten muss. Das ist sicherlich ein wesentlicher Beitrag der Spiritualitäten der Religionsgemeinschaften, in denen sich jahrhundertealte Weisheiten aus dem Umgang mit Gott, Welt, Mitmenschen und sich selbst kondensieren. Der Studientag hat dazu beigetragen, diese zu erschließen.