LEITARTIKEL

In der Ölfalle

d'Lëtzebuerger Land vom 20.05.2022

Der Energiepolitik wird derzeit viel abverlangt. Um Druck auf Russland auszuüben, den Krieg in der Ukraine zu beenden, soll sie die EU-Staaten auf eine Linie bringen. Damit nicht nur auf Kohle-Lieferungen verzichtet wird, wie schon geschehen, sondern auch auf russisches Öl und am besten auch auf Gas. Zum Klimaschutz soll sie ebenfalls beitragen. Zum Beispiel dafür sorgen, dass viel mehr Strom aus Solar- oder Windkraft in den Netzen fließt. Was einerseits voraussetzt, dass mehr „grüner“ Strom produziert wird, andererseits müssen die Stromnetze zur Solar- und Windstromproduktion hin ausgebaut werden. Was Zeit und hohe Investitionen erfordert.

Am Mittwoch hat die EU-Kommission einen Vorschlag für ein Paket vorgestellt, das diesen Zielen gerecht werden soll. Kurzfristig soll damit auch reagiert werden können, falls die Preise für Erdöl weiterhin hoch bleiben und falls Russland der EU den Gashahn zudreht. Dann könnte die EU im Verbund Gas anderswo einkaufen. Die Preise für die Endverbraucher könnten gedeckelt werden, und EU-Staaten, die weniger stark von Importen aus Russland abhängen, könnten jenen, die viel von dort beziehen, „nach dem Solidarprinzip aushelfen“, schrieb die Kommission am Mittwoch.

Dass dabei viel von „könnte“ die Rede ist, deutet schon an, dass die politische Konsensfähigkeit der Vorschläge Grenzen hat. Wie weit die Gas-Solidarität reichen würde, würde erst klar, falls Russland noch anderen Staaten die Lieferungen kappen wie bisher Bulgarien und Polen. Politisch aber ist noch ein anderes Thema an seine Grenzen geraten: Ein Embargo, das die EU gegenüber Russland verhängen könnte, fiele für Öl leichter als für Gas, hieß es bisher. Nun ist daran zu zweifeln.

Denn ebenfalls wenig politikfähig sind Ideen, wie sie im März die Internationale Energieagentur IEA unterbreitet hatte: Um den Ölbedarf zu drosseln, sollte beispielsweise auf Autobahnen die Höchsgeschwindigkeit um mindestens zehn Stundenkilometer gesenkt; in Städten „autofreie“ Sonntage eingeführt; wechselnde Fahrverbote erlassen werden und wöchentlich bis zu drei Tage Telearbeit. Vorschläge dieser Art aber hat die EU-Kommission sich nicht zu machen getraut. Als fürchtete sie schlechte Presse und dass es heißen könnte, „Brüssel“ schreibe vor, wie schnell gefahren werden darf. Ergo bleiben solche Initiativen den Mitgliedstaaten überlassen. Was es unwahrscheinlich macht, dass sie ergriffen werden.

Politische Feigheit vor den Autofahrern wird aber nicht nur den Erfolg eines EU-Ölembargos in Gefahr bringen. Es drohen noch andere Risiken, die eigentlich Anlass sein müssten, den Ölbedarf rasch und deutlich zu senken. Seit China von Covid-19 betroffen ist wie nie zuvor und Lockdowns verhängt hat, liegt sein Ölbedarf laut IEA drei Millionen Barrel am Tag niedriger als sonst. Das hat die Preise sinken lassen; die Weltfördermenge liegt bei hundert Millionen Barrel täglich. Russland verkauft sein Öl derzeit mit Rabatt.

Ewig aber werden die Lockdowns in China nicht dauern. Die IEA geht davon aus, dass sie im Sommer vorbei wären. Und zusammenfielen mit der „Driving Season“ in den USA: Im Juli und August ist dort der Spritbedarf traditionell so hoch, dass er mit zwei bis 2,5 Millionen Barrel-Rohöläquivalent fast so hoch wäre wie der Minderbedarf in China zurzeit. Ob die in der Opec organisierten Ölförderländer die Produktion zu erhöhen bereit sein werden, ist nicht sicher. Dass der Iran als großes Förderland hinzutreten wird, auch nicht: Die Neuauflage des Atom-Abkommens wird von Russland blockiert; aus nicht fernliegendem politischem Kalkül. Und so könnte der Barrel-Preis ab Sommer womöglich 120 bis 130 Dollar erreichen.

Dann würden nur chaotische Ajustierungen von Angebot und Nachfrage über den Preis drohen. Und vielleicht noch mehr: Es gibt Ökonomen, die beschrieben haben, dass die Subprime-Krise in den USA, die 2008 in die weltweite Finanzkrise mündete, wesentlich durch die 2007 sehr hohen Ölpreise mitgetriggert wurde. Weil Petrolprodukte teuer geworden waren, konnten amerikanische Hypothekenkreditnehmer in großer Zahl ihre Darlehen nicht mehr bedienen. So dass im worst case eine ganze Reihe unangenehme Szenarien zusammenkommen könnten. Ein erster Schritt, um das zu vermeiden, wäre die Reduzierung des Ölbedarfs. Dann würde auch ein Embargo der EU gegenüber Russland Sinn machen. Nur dann.

Peter Feist
© 2024 d’Lëtzebuerger Land