Frankreich setzt zum Erreichen der Klimaziele auf Atomkraft. Besonders in kleine Atommeiler will Präsident Macron investieren, um die Energiewende voranzutreiben. Um das zu finanzieren, muss die Atomenergie in der EU-Taxonomie als nachhaltig eingestuft werden. Doch auch die neue Technik birgt viele Probleme

Frankreichs Plädoyer für Mini-AKW

d'Lëtzebuerger Land vom 12.11.2021

„Die Atomkraft neu erfinden“: So nannte Emmanuel Macron im Oktober seine Vision von Frankreichs Energiewende. In seinem France 2030-Plan zur Reindustrialisierung des Landes spielt die Kernenergie eine zentrale Rolle: Eine Milliarde Euro will der französische Präsident in die Förderung kleiner Atommeiler investieren, sogenannter Small Modular Reactors. Zugleich plant Paris den Bau sechs neuer Druckwasserreaktoren.

Neu ist die Vehemenz, mit der Macron diese Linie sechs Monate vor den Präsidentschaftswahlen verteidigt. Kaum eine Rede des Präsidenten kommt derzeit ohne das Schlagwort nucléaire aus. Atom avanciert zur Wunderlösung zum Erreichen der EU-Klimaziele. Dabei geht es auch um das wirtschaftliche Überleben des französischen Energiekonzerns EDF, der größtenteils dem Staat gehört.

Doch damit Frankreich die nötigen Gelder mobilisieren kann, um die Vision der neuen Atomwende umzusetzen, braucht es vor allem eins: ein grünes Label. So erklärt sich, wieso Macron so stark darum kämpft, dass die Atomkraft in die Taxonomie für nachhaltige Investitionen aufgenommen wird. Nachdem Frankreich mit seiner Vision im Rat lange Zeit isoliert war, liefern die steigenden Gaspreise neue Argumente.

Doch damit Frankreich die nötigen Gelder mobilisieren kann, um die Vision der neuen Atomwende umzusetzen, braucht es vor allem eins: ein grünes Label. So erklärt sich, wieso Macron so stark darum kämpft, dass die Atomkraft in die EU-Taxonomie für nachhaltige Investitionen aufgenommen wird. Nachdem Frankreich mit seiner Vision im Rat lange Zeit isoliert war, liefern die steigenden Gaspreise neue Argumente.

„Die Energiekrise kommt zu einem guten Zeitpunkt für die Atomenergie“, drückt es das europäische Atomforum Foratom aus und spricht von einem Wiederaufleben der Kernkraft. Durch die hohen Gaspreise drängen nicht mehr nur Frankreich und die osteuropäischen Staaten auf die Einstufung der Atomkraft als „nachhaltig“. In Belgien etwa, wo die Entscheidung zum Atomausstieg längst gefallen war, entflammt die Diskussion über das Ende der Laufzeitverlängerungen auf ein Neues und sorgt für starke Spannungen innerhalb der Regierung. Die Niederlande und Schweden haben sich angesichts der alarmierenden Energiepreise inzwischen auch auf die Seite der Pro-Nuklear-Länder gestellt. Der Druck auf die EU-Kommission steigt.

Taxonomie-Vorschlag kommt im November

Diese wollte die Taxonomie-Entscheidung zwischenzeitlich auf nächstes Jahr verschieben. Doch nach dem Gipfeltreffen der EU27 Ende Oktober hat sich die Kommissionspräsidentin persönlich eingemischt. Nun will Ursula von der Leyen den entsprechenden Rechtsakt diesen Monat schon vorlegen und beugt sich damit dem Druck der atom- und gasfreundlichen Mitgliedsstaaten. Obwohl delegierte Rechtsakte eigentlich Aufgabe der Kommission sind, zirkuliert bereits ein Vorschlag aus der Feder Frankreichs.

Der hiesige Energieminister Claude Turmes (déi gréng) warnt, durch die Aufnahme von Atomenergie zerstöre die Kommission die Glaubwürdigkeit der Taxonomie. Doch die Gegner, allen voran Luxemburg und Österreich, sind zunehmend isoliert.

Mit Deutschland hätten sie einen starken Alliierten, schließlich spricht sich das Bundesumweltministerium klar gegen die Atomkraft in der Taxonomie aus. Doch wird sich die scheidende Bundesregierung kaum auf die Seite der Atomkritiker stellen. Zu schwer wiegt das Interesse, dass auch Erdgas als Brückentechnologie ein nachhaltiges Label bekommt. Wie sich eine Ampel-Koalition positionieren würde, ist noch offen. Der Grünen-Unterhändler Sven Giegold betonte aber, seine Partei lehne die Aufnahme von Kernenergie in die Taxonomie entschieden ab.

Fokus auf kleine modulare Reaktoren

An der Ausgangslage hat sich jedoch nichts geändert. Der Bau neuer AKWs ist weiterhin teuer und langwierig. Die Sicherheit ist immer noch ein Problem. Die Suche nach Endlagern ist weiterhin ungelöst.

Seitens der Atomlobby fällt insbesondere ein Schlagwort, um der Kritik an der Kernenergie zu kontern: Small Modular Reactors (SMR). Es handelt sich dabei um Reaktoren, die deutlich kleiner sind als herkömmliche AKWs. Der Vorteil: Sie können ganz oder zum Teil in Fabriken hergestellt werden und dann an den Betriebsort gebracht werden. Dadurch, so das Argument der Atomindustrie, seien die Investitionskosten deutlich geringer als bei herkömmlichen AKWs.

Die SMR könnten so den Domino-Effekt liefern, den die Industrie für ihr Comeback braucht: eine serienmäßige Produktion, konkurrenzfähige Preise, angepasste Lieferketten, neue Expertise. „AKW-Projekte entstehen heute nach einer langen Pause, in denen keine Reaktoren gebaut wurden. Nun kommt wieder Fahrt auf“, sagt Andrei Goicea von Foratom.

Die SMR dienen demnach als wichtiges Eintrittstor für die von Macron angepriesene Neuerfindung der Atomkraft. „Viele Staaten können sich besser mit kleinen Reaktoren als mit großen AKW-Projekten anfreunden“, glaubt Goicea. Die kleinen Atommeiler könnten etwa für die Energie- und Wärmeproduktion von Städten oder zur Stromproduktion an Industriestandorten eingesetzt werden.

Einige Mitgliedsstaaten springen bereits auf diesen Zug auf. Frankreich will ab 2030 mit dem Bau kleiner Atommeiler beginnen und mobilisiert dafür eine Millarde Euro. Um die sechs Wasserkraftwerke zu ergänzen, mit denen Frankreich liebäugelt, wolle EDF mindestens ein Kraftwerk des Typs SMR bauen, sagte der EDF-Exekutivdirektor Xavier Ursat zu Capital.

Auf lange Sicht plant der französische Energiekonzern allerdings, die Technologie zu exportieren und im Ausland als Helfer in der Energiewende zu vermarkten. Die Meiler hätten schließlich die Größe von Kohleminen, die es nun überall in der Welt zu ersetzen gelte. Das Potenzial sieht auch die Atomlobby. „Die alten Minen liefern den Standort und Netzanschluss für die SMR, und die Kohlearbeiter ließen sich zur Betreibung der SMR umschulen“, sagt Andrei Goicea.

Atomkraft statt erneuerbare Energien

In diesem Sinne wäre Frankreichs Vorstoß auch ein Schlag gegen den Ausbau erneuerbarer Energien, die ja eigentlich als langfristige Lösung in der Energiewende gehandelt werden. In Frankreich zumindest sind die Prioritäten klar: France 2030 sieht nur 500 Millionen für den Ausbau erneuerbarer Energien vor, gegen eine Milliarde für die Atomkraft.

AKWs statt Kohlekraft: Eine Einstufung der Kernkraft als „nachhaltig“ avanciert in diesem Sinne zum zentralen Argument, um diese Strategie zu finanzieren. Auch Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien und Italien interessieren sich mit Blick auf die Energiewende zunehmend für die SMR. Warschau hat erst vergangenen September entsprechende Memoranda of Understanding mit US-amerikanischen und kanadischen Firmen unterschrieben. Letzte Woche haben die USA und Bukarest ihre Zusammenarbeit beim Bau eines SMR in Rumänien durch die amerikanische Firma NuScale angekündigt.

Die EU-Kommission scheint der Technologie ihrerseits nicht abgeneigt. Die EU-Beratungsstelle JRC jedenfalls sieht die SMR insbesondere als Lösung gegen die hohen Baukosten von AKW. Immerhin gebe es bereits ein steigendes Interesse an diesen Reaktoren in der EU, schreiben die Forscher.

Gleichzeitig finanziert die Kommission unter Horizon 2022 mit drei Milliarden das insgesamt vier Milliarden Euro schwere Projekt zur Lizenzierung der Technologie, Elsmor. Im Sommer organisierte die Kommission den „ersten EU-Workshop zu SMRs“, bei dem es darum ging, das Potenzial der Reaktoren zur Dekarbonisierung der EU zu untersuchen. SMR bieten „innovative Lösungen zur Energieversorgung“ und ihre Entwicklung könnte zur Innovation und Resilienz der europäischen Industrie beitragen, antwortete Energiekommissarin Kadri Simson auf eine parlamentarische Anfrage von Tom Berendsen (EVP).

Auch SMR bergen Probleme

Unklar ist jedoch, ob die Reaktoren auf Dauer tatsächlich preiswerter sind. Momentan befinden sie sich nämlich erst in der Projektphase. Die deutsche Bundesagentur für atomare Sicherheit (Base) jedenfalls rechnet nicht mit einem Kostenabfall: „Signifikante Kostenersparnisse aufgrund stärkerer Modularität sind in den vergangenen Reaktorentwicklungen nicht zu beobachten und auch für die Zukunft nicht zu erwarten“, schreibt sie in einem Gutachten. Den Kostenvorsprung durch den Bau in der Fabrik würde sich demnach durch die Transportkosten ausgleichen. Gleichzeitig rechnet die Base mit geringen Laufzeiten der Reaktoren und warnt vor einem schwierigen Rückbau.

Hinzu kommt, dass es eine Vielzahl von SMR braucht, um die Leistungskraft gewöhnlicher Reaktoren zu erreichen. Base spricht von einem Faktor 3 bis 1 000. Will heißen: Anstelle von heute rund 400 AKWs benötige man „den Bau von vielen Tausend bis Zehntausend SMR-Anlagen“, um die gleiche Leistung zu erreichen. Dadurch würde sich die Zahl der mit den Anlagen verbundenen Risiken ebenfalls vervielfachen. „SMR verlagern die Nachteile der nuklearen Energieproduktion von (vergleichsweise) wenigen Großanlagen auf viele Kleinanlagen“, kommentiert ein Sprecher des BMU.

Vor allem aber bringe auch die SMR keine Lösung zur Entsorgung des radioaktiven Abfalls: Dieses Problem würde demnach weiter auf zukünftige Generationen verschoben werden, kritisiert die Base. Foratom kontert: Die EU sei gerade in dieser Frage ein Vorreiter und plane erste Projekte zu geologischen Tiefenlagern..

(Dieser Beitrag ist erstmalig im Europe.Table erschienen: https://table.media/europe)

Charlotte Wirth
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