Seit März 2018 sind neun Geldautomaten gesprengt worden. Anwohner und Banken sind besorgt, die Polizei ermittelt bisher ergebnislos

Es knallt

d'Lëtzebuerger Land vom 11.09.2020

Ardennen Eine heiße Nacht. Wie so oft in den vergangenen Tagen. Monique S. hat das Fenster zu ihrem Schlafzimmer im ersten Stockwerk gekippt. An den Lärm der N7 in Weiswampach hat sie sich längst gewöhnt. Sie lebt seit ihrer Kindheit in diesem Haus an der Nationalstraße, die quer durchs Land bis zur Hauptstadt führt. Als Tochter, als Ehefrau, als Mutter, seit einiger Zeit alleine. Den Ring trägt sie immer noch.

Doch an Schlafen ist in dieser Nacht nicht zu denken, das Haus will nicht abkühlen. Das Thermometer fällt nicht unter 20 Grad Celsius. Monique S. dreht sich von einer Seite auf die andere. Und gegen 1:40 Uhr vernimmt sie einen „unglaublichen Knall“. Ein gewaltiger Rumms geht durch ihren ganzen Körper. Erinnerungen an die Ardennenoffensive schießen ihr durch den Kopf, die sie im selben Haus im Winter 1944/45 als Kind miterleben musste. Doch sie muss auch an die Bilder der Explosion in Beirut denken, die tags zuvor in den Medien gezeigt wurden.

Monique S. steigt aus ihrem Bett, geht ans Fenster, ohne das Licht anzuschalten. Sie sieht ein großes schwarzes Loch gegenüber im Eingangsbereich der Raiffeisenfiliale. Die Tür ist verschwunden. Die Einzelteile liegen verstreut auf der Straße im Umkreis von zwanzig Metern. Und auf dem Bürgersteig liegt die Hülse des Geldautomaten. Dann erkennt die Frau eine hagere Gestalt, vermummt mit Kapuzenpulli. Die Gestalt hält eine leuchtende Taschenlampe in einer Hand und redet mit jemanden im Gebäude, die Sprache versteht Monique S. nicht. Ihr wird nun klar, dass es sich um Kriminelle handelt, die den Geldautomaten gesprengt haben. Zu diesem Zeitpunkt hat eine Person im Nachbarhaus der Raiffeisenfiliale bereits die Polizei alarmiert. Doch als die Polizisten Minuten später in Weiswampach eintreffen, ist es schon zu spät: Die Personen sind längst mit einem weißen Auto geflüchtet.

Erst als die Sonne wenige Stunden später aufsteigt, wird das Ausmaß der Explosion sichtbar. Splitter liegen herum, manche Teile sind bis auf das Grundstück von Liane H. geflogen, der Tochter von Monique S., die gleich gegenüber der Bankfiliale lebt. Die Polizei muss den gesamten Donnerstag die N7 zur Spurensicherung und Räumung absperren. Es bleibt beim Sachschaden, Verletzte gibt es keine.

Serie Was in der Nacht am 6. August in Weiswampach geschah, ist kein Einzelfall. Es handelt sich vielmehr um eine mittlerweile beachtliche Serie von gesprengten Geldautomaten in Luxemburg: Niederanven, Heiderscheid, Hosingen, Wintger, Remich, Mersch, Weiswampach und am vergangenen Wochenende Grevenmacher und Pommerloch. Die Polizei zählt seit März 2018 neun Automaten-Sprengungen im ländlichen Raum und spricht von einem Schaden von mindestens 760 000 Euro, ohne die rezenten Sprengungen im August und September, deren Ausmaß noch nicht chiffriert ist. Es ist die beeindruckendste Serie von Sprengungen in Luxemburg seit den Bommeleeër-Fällen Mitte der 1980-er-Jahren.

Und ähnlich wie bei den Terrorattacken in den Achtzigern konnte bis jetzt noch kein Verantwortlicher dingfest gemacht werden. Die Ermittlungen laufen. Die Polizei gibt sich wortkarg, will weder zu der Vorgehensweise noch zu den möglichen Tätern nähere Informationen geben. Wenigstens das Motiv der Sprengungen scheint klar: Die Täter sind auf Geldscheine aus.

Banden Panzerknacker und gestohlenes Bargeld klingen nach einer Welt von gestern, muten fast archaisch an und erinnern an alte Hollywoodblockbuster aus dem 20. Jahrhundert. Im digitalen Zeitalter gilt Cyberkriminalität als en vogue – Kriminelle stehlen durch Phishing-Versuche oder das gezielte Einsetzen von sogenannter Malware Millionen Euro von Unternehmen und Einzelpersonen. Dass sich noch jemand die Mühe macht, eine Kapuze überzustreifen und das Risiko eingeht, Banken oder Geldautomaten auf herkömmliche Weise analog zu überfallen bei lückenloser Videoüberwachung und neuen forensischen Möglichkeiten, überrascht auf den ersten Blick.

Dabei beschränken sich die Sprengungen nicht nur auf Luxemburg. Es handelt sich vielmehr um ein internationales Phänomen, das zu einem echten Problem für die Finanzinstitute geworden ist. Manche Experten bezeichnen die Sprengungen als den Bankraub des 21. Jahrhunderts. 2011 sind zum ersten Mal Geldautomaten in Italien hochgeflogen, später in den Niederlanden und in Deutschland. Allein im Bundesland Nordrhein-Westfalen hat es laut einem Bericht der deutschen Sonderkommission Heat (wohl nicht zufällig nach dem gleichnamigen Actionfilm von 1995 benannt) seit dem Jahr 2015 634 Automatensprengungen gegeben, der Schaden wird auf über 30 Millionen Euro chiffriert. Die Ermittler des LKA Düsseldorf sehen vor allem kriminelle Banden aus den Vororten der niederländischen Städte Utrecht und Amsterdam hinter einem Großteil der Verbrechen stehen. Sie sprechen von einem „fluiden Netzwerk“ von jungen Männern im Alter zwischen 18 und 35 Jahren. Es handle sich dabei weniger um „hochprofessionelle Kriminelle“ als vielmehr um „hochkriminelle Amateure“ mit hoher Risikobereitschaft, aber wenig verbrecherischer Erfahrung.

In diesem Jahr hat die deutsche Ermittlergruppe bereits 78 mutmaßliche Automatensprenger festgenommen, unterbinden konnte sie die Sprengungen damit jedoch nicht. Laut Luxemburger Wort stehen die Überfälle im Großherzogtum ebenfalls im Zusammenhang mit den sogenannten Plofkraak-Banden, wie die Gangster in den Niederlanden genannt werden. Die Polizei wollte auf Land-Nachfrage dazu keine Angaben geben.

Baumarkt Ein Grund für die hohe Konjunktur an Automatensprengungen liegt mitunter in der einfachen Vorgehensweise: eine Sprengung ist nämlich denkbar simpel durchzuführen. Die Verbrecher dichten die Geldautomaten ab und leiten üblicherweise über die Geldausgabe ein Gasgemisch in den Automaten ein, das in jedem Baumarkt erhältlich ist. Das Gasgemisch wird dann mit einer Zündschnur oder elektronisch aus sicherer Distanz zur Explosion gebracht. Der Geldautomat wird durch die Wucht der Explosion aus der Verankerung gerissen, die Kriminellen müssen die Geldscheine nur noch einsammeln. Da sich die Menge des austretenden Gases nur schwer kontrollieren lässt und es sich oftmals um Amateure handelt, kann die Explosion sogar ganze Wände einreißen wie im März 2018 bei einer Explosion des Postautomaten in Niederanven. Laut LKA-Bericht sind die Sprengungen für die Verbrecher in rund der Hälfte der Fälle erfolgreich, der ergaunerte Geldwert beträgt jeweils rund 100 000 Euro. Wie oft die Verbrecher in Luxemburg Erfolg hatten, wollte die Polizei nicht mitteilen.

Die kriminelle Aktion dauert dabei in der Regel nur wenige Minuten: Die Verbrecher suchen sich in der Nacht bevorzugt einen freistehenden Geldautomaten auf dem Land nahe der Grenze. So können sie nach der Tat mittels PS-starken Sportwagen die Landesgrenze schnell verlassen, meistens noch bevor die Polizei am Tatort ist. Die Anleitung für die Sprengungen finden die Kriminelle laut LKA im Internet oder lernen von älteren Bandenmitgliedern. Das Plofkraak-Phänomen ist mittlerweile schon Teil der Popkultur in den Niederlanden – der Rapper Djezja aus Utrecht hat eigens dazu einen Song auf Youtube veröffentlicht, in dem er die Raubzüge feiert.

Achillesferse Geldautomaten gelten als schwer gepanzert von außen – aber eine Sprengung von innen gilt als Schwachstelle. Von Fachleuten wird deshalb seit Jahren ein Farbsystem empfohlen: Bei einer gewaltsamen Öffnung werden die Geldkassetten mit nicht auswaschbarer Tinte befleckt und gelten damit als wertlos. In Belgien, Frankreich und in Schweden sind die Finanzinstitute mittlerweile gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Automaten mit Farbsystemen auszustatten. In den Niederlanden haben die Finanzinstitute von sich aus ohne staatliche Anweisung auf dieses System umgestellt. Die Nachrüstungen pro Geldautomat gelten jedoch als teuer. Laut LKA-Ermittler gäbe es mittlerweile auch einen Markt für befleckte Geldscheine, der das System obsolet mache.

Ob die Geldautomaten in Luxemburg auch mit diesen Farbsystemen ausgestattet sind, ist unklar. Die Banken in Luxemburg, die Opfer einer Sprengung wurden, wollten zu ihren Sicherheitssystemen keine Angaben machen. Auch der Bankenverband ABBL wollte sich aus Sicherheitsgründen nicht dazu äußern. ABBL-Präsident Guy Hoffman sagte lediglich, dass die Geldautomaten der Banken in Luxemburg über hohe Sicherheitsstandards verfügen.

Hoffmann hält die Serie von Sprengungen allerdings für „besorgniserregend“. Man arbeite eng mit der Polizei zusammen, um die Schuldigen ausfindig zu machen und solche Vorfälle in Zukunft zu verhindern. Zudem habe die ABBL eine Arbeitsgruppe erstellt, um neue „Präventionsmaßnahmen“ für Geldautomaten auszuarbeiten. Was genau er damit meinte, ob es teure Nachrüstungen geben wird, ob ältere Automaten ausgetauscht werden oder an sicherere Orte innerhalb von Gebäuden gestellt werden sollen, wollte er nicht sagen.

Verödung der Dörfer Romain Schroeder, Bürgermeister von Winseler, bereiten die Automatensprengungen ebenfalls Sorgen. Vergangene Woche wurde in seiner Gemeinde im Pommerloch ein Automat der BGL nahe einer Tankstelle gesprengt. Schroeder befürchtet, dass die Banken aufgrund der neuen Gefahr durch Panzerknacker-Banden ihre Geldautomaten aus den ländlichen Regionen vermehrt abziehen werden. „Das wird den Abzug der Infrastruktur noch weiter vorantreiben“, so Schroeder. Er gehörte zu einer Reihe von besorgten Bürgermeistern, die im Februar kurz vor der Corona-Pandemie auf die Verödung der Dörfer hinwiesen, nachdem die Spuerkeess entschieden hatte, aus Kostengründen elf Filialen zu schließen.

Bargeld gilt insgeheim für Finanzinstitute als teures Geschäft: die Logistik, um Scheine von A nach B zu bringen, ist aufwändig, die (Ver-)Sicherung des Geldwerts kostspielig. Seit Jahren geht die Tendenz deshalb dahin, die Kunden dazu zu bringen, den Großteil der Geldtransaktionen bargeldlos mit Karten oder digitalen Systemen durchzuführen. Falls die Banken nun zusätzliche Kosten in die Sicherheit stecken müssen, sind sie womöglich dazu geneigt, die Automaten ganz aufzugeben, so jedenfalls die Befürchtung Schroeders.

Léon Gloden, CSV-Abgeordneter und Bürgermeister von Grevenmacher, glaubt das nicht. Die letzte Sprengung ereignete sich in seiner Gemeinde im Einkaufszentrum Copal an einem Automaten der Bil. Für Gloden stehen nun weniger die Banken in der Pflicht, sondern vielmehr die Politiker. Die aktuelle Regierung habe zugesehen, wie immer mehr Polizisten in den ländlichen Gebieten abzogen wurden. „An manchen Wochenenden gibt es nur noch zwei Patrouillen im gesamten Osten“, so Gloden. Deshalb sei es ein Leichtes für Kriminelle gegen Bankautomaten vorzugehen. Kurz: Für Gloden ist die Serie der Sprengungen auch ein Resultat des Personalmangels der Polizei, was die Gambia-Regierung zu verantworten habe.

Auch Monique S. findet die Serie von Sprengungen mittlerweile besorgniserregend. Angst habe sie jedoch keine, dafür habe sie schon zu viel erlebt. Aber bei einer Sache ist die ältere Frau sich sicher: Es wird bald wieder knallen.

Pol Schock
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