Ein landesweites Vermummungsverbot soll vor 13 harmlosen Frauen und die DP/LSAP/Grüne-Regierung vor Konkurrenz von rechts schützen. Die Rechnung geht nicht auf

Vivre à part

d'Lëtzebuerger Land vom 11.08.2017

„Nuanciert und ausgewogen“ nannte der grüne Justizminister seinen Vorschlag zum landesweiten Vermummungsverbot, den er am Montag Journalisten und den Abgeordneten der Justizkommission vorstellte. So dringend ist es, dass die Vorstellung mitten in die Sommerpause fällt. Félix Braz will den Artikel 563 im Strafgesetzbuch ändern: Wer sein Gesicht so verhüllt, dass er oder sie nicht zu identifizieren ist, macht sich strafbar. Aber nur an bestimmten Orten, wie in öffentlichen Verwaltungen, Gerichtsgebäuden, Schulen und Kindergärten, im öffentlichen Transport, in Krankenhäusern und Altersheimen, wobei die beiden Letzteren Ausnahmen selbst regeln können. Wer sich nicht an das Vermummungsverbot hält, dem/der droht eine Strafe von 25 bis 250 Euro.

Das Verbot, das wie Braz betonte, kein Burkaverbot sei, sondern alle Arten von Vermummungen betreffe (mit Ausnahme von Karneval und Kleeschen), stehe in einer „Luxemburger Tradition“: 47 Gemeinden verbieten die Gesichtsvermummung per Verordnung, die älteste gilt in der Hauptstadt (1902), andere, wie die in Bettemburg oder Mondorf, stammen aus den 1960-er Jahren. Von einem Vermummungsverbot erfasst seien somit 72,75 Prozent der Luxemburger Bevölkerung. Weil aber der Staatsrat in seinem von der Regierung in Auftrag gegebenen Gutachten unter Berufung auf den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in Straßburg festgehalten hatte, dass Eingriffe in Grundrechte wie die Religionsfreiheit oder Privatsphäre per Gesetz zu regeln seien, sei ein landesweites Verbot notwendig geworden. Verstöße gegen das Strafgesetzbuch werden von der Polizei kontrolliert. Die Gemeindeverordnungen bleiben trotzdem in Kraft.

Frankreich ist (nicht) Luxemburg

Auf die Straßburger Richter berief sich der Justizminister gleich mehrfach. Auch sein Gesetz baut, wie das französische Vermummungsverbot, das sich allerdings auf den gesamten öffentlichen Raum erstreckt, auf dem Argument des „vivre ensemble“, des gesellschaftlichen Zusammenlebens, auf. Frankreich hatte 2011 als erstes EU-Land das Tragen von Burka (Vollschleier mit Augengitter) und Nikab (Vollschleier mit Sehschlitz) in der Öffentlichkeit verboten und, als es von einer muslimischen Frau vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen Diskriminierung und Einschränkung ihrer religiösen Freiheiten verklagt wurde, das Verbot damit begründet, in dem republikanischen Land sei es „eine Grundbedingung des menschlichen Zusammenlebens“, sein Gesicht zu zeigen.

Die Richter hatten zwar weitere Gründe der französischen Regierung für das Verbot, die Gleichheit von Frau und Mann, die Menschenwürde sowie Sicherheitsbedenken, verworfen. Gerechtfertigt war das Verschleierungsverbot aber ihrer Meinung nach trotzdem, um die offene zwischenmenschliche Beziehung in der französischen Gesellschaft zu erhalten. Es gebe in Frankreich einen Konsens, dass für eine offene Kommunikation untereinander das Gesicht erkennbar sein sollte. Dem werde mit dem Verschleierungsverbot Rechnung getragen, hatten die Straßburger Richter erklärt. Der Staat habe hier einen weiten Beurteilungsspielraum.

Auf diese Begründung stützte sich Braz: Es gehöre zur luxemburgischen Gesellschaft, sein Gesicht zu zeigen und erkennbar zu sein, sagte er auf der Pressekonferenz. Das würden nicht zuletzt die Gemeindeverordnungen belegen. Allerdings gab es, als diese erlassen wurden, kaum Musliminnen in Luxemburg, geschweige denn vollverschleierte. Nun wird deutlich: Für diese Regierung gehören sie zur Gesellschaft nicht, oder nur bedingt, dazu. Dabei hatte Erziehungsminister Claude Meisch (DP) nach den Attentaten auf das Satiremagazin Charlie Hebdo in Paris in einem Tageblatt-Interview betont, Ereignisse wie diese seien „auch ein Zeichen dafür, dass wir insgesamt mehr Dialog in unserer pluralistischen Gesellschaft brauchen“. 

Qualität der Interaktion

Das ist nicht der einzige Widerspruch und nicht die einzige Frage, die das Verbot aufwirft. Zum einen bezieht es sich eben nicht auf das Zusammenleben insgesamt, sondern nur auf das an bestimmten Orten. Es sei ein Unterschied, ob jemand einen Antrag auf einer Gemeinde stelle oder nur den Müll heraustrage, erklärte Braz. Man habe versucht, die Freiheit der Frauen so wenig wie möglich zu beschneiden. Wie aber unterscheidet sich die Qualität der Interaktion, wenn eine vollverschleierte Frau an einer Haltestelle steht und auf den Bus wartet, wo sie laut Entwurf den Schleier anbehalten darf, von jener im Innern des Busses, wenn sie sich hinsetzt? Die Identität von (verdächtigen) Personen klären kann die Polizei zu jeder Zeit. Grauzonen und Grenzbereiche könnten verantwortlichen Polizisten in Zukunft einiges Kopfzerbrechen abverlangen.

Die Straßburger Richter hatten den weiten Beurteilungsspielraum im Falle Frankreichs mit dem vorangegangenen ausführlichen Beratungsprozess begründet. So gesehen, stellt das Urteil eine Anerkennung des demokratischen Verfahrens dar, ehe das Gesetz von der Nationalversammlung verabschiedet wurde. Ob dies ebenso auf Luxemburg übertragbar ist, muss sich zeigen. Auf Nachfrage sagte Braz, er habe den Conseil des cultes, in dem die Religionsgemeinschaften vertreten sind, und die Shoura (Rat islamischer Gemeinschaften) über seine Pläne „unterrichtet“. Das deutet eher auf simple Information, denn auf eine echte Konsultation hin. Auf Land-Nachfrage teilte das Gremium lediglich mit, eine Stellungnahme vorzubereiten. In der Schura ist keine einzige Frau vertreten. Die Vollverschleierung betrifft jedoch ausschließlich Frauen, weshalb Burka und Nikab vielen Feminist_innen ein Dorn im Auge sind. Wie also wurden oder werden die Frauen in die Beratungen einbezogen? Von einer breiten, alle gesellschaftlichen Gruppen einbeziehenden, Pro- und Kontra-Positionen sorgfältig abwägenden Debatte kann zum heutigen Zeitpunkt keine Rede sein, auch wenn Braz wiederholt unterstrich, unterschiedliche Meinungen liefen „quer durch alle Parteien“ und „Redaktionen“.

Mehrheitenschutz

Doch die Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zu den Vermummungsverboten Frankreichs und Belgiens wurden durchaus auch kritisch aufgenommen. Die Notion des „vivre ensemble“ existiert als einklagbares Recht nämlich gar nicht, weder in Frankreich oder Belgien, noch sonst irgendwo in Europa. Trotzdem hat der EGMR das Verbot als einen Weg des französischen sowie des belgischen Staates interpretiert, „die Rechte und Freiheiten anderer zu schützen“ („droit d’autrui d’évoluer dans un espace de sociabilité facilitant la vie ensemble”, 2014) und als „Wahl einer Gesellschaft“. Doch der Begriff des Zusammenlebens ist vage und flexibel auslegbar, so dass die Richter es selbst für notwendig hielten, vor der „Gefahr von Exzessen“ zu warnen. Was hindert eine Regierung eines EU-Landes künftig daran, die Straßen von gesellschaftlich geächteten Roma zu räumen, dies im Namen des Schutzes der Rechte anderer?, fragt Eva Brems, Rechtsprofessorin an der belgischen Universität Gent, zugespitzt. Oder „homosexuelle Propaganda“ aus der Öffentlichkeit zu verbannen, wie es Russland heute unter Berufung auf russisch-orthodoxe Traditionen tut? Eine demokratische Gesellschaft zeichnet sich gerade durch den Schutz ihrer Minoritäten aus. Das hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in seinen Urteilen sonst stets betont.

Umso wichtiger wäre es, dass der Gesetzgeber gründlich prüft, ob die Einschränkung von Minderheitenrechten und anderen Grundfreiheiten notwendig und verhältnismäßig ist. Aber kann ein Gesetz, das rund ein Dutzend Frauen betrifft (Braz spricht von 15, die Schura dem Land gegenüber von 13) verhältnismäßig sein? Stört ihr Gesichtsschleier wirklich das Zusammenleben? Welches, von wem? Was bedeutet es, wenn gerade jenen Frauen der Zugang zum öffentlichen Transport oder zu Gesundheitsdiensten erschwert würde? Bisher gab es, so räumte Félix Braz auf Nachfrage ein, keinen einzigen Gerichtsfall und auch kein Protokoll wegen verbotener Gesichtsvermummung, auch nicht in den Gemeinden.

Nassera Guezzen Azizi, eine französische Muslimin, die in Luxemburg lebt, befürchtet negative Folgen – für die Frauen, aber auch für das Miteinander: Mit dem Verbot riskiere der Gesetzgeber, konservativen Musliminnen, „die eine Minorität darstellen, weiter zu marginalisieren und ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken“, so die Soziologin, die selbst noch keine vollverschleierte Frau auf Luxemburgs Straßen angetroffen hat. Azizi fürchtet, dass, ähnlich wie in Frankreich, junge muslimische Frauen hierzulande das Symbol des Gesichtsschleiers künftig bewusst wählen könnten, um sich „gegen eine Gesellschaft zu stellen, die ihnen feindlich gesonnen erscheint“, und so die soziale Spaltung verstärkt und ein Zusammenleben schwierig bis unmöglich wird, obwohl das Gesetz genau dieses zu fördern vorgibt. Andere Feministinnen, wie die Pariser Philosophin Élisabeth Badinter, sehen in der Vollverschleierung eine „politische Standarte“ eines radikalen Islams in Europa. Entsprechend verständnislos sind sie, dass der EGMR in der Burka keinen Verstoß gegen die Gleichheit der Geschlechter erkennen konnte.

In Frankreich waren zum Zeitpunkt des Gerichtsurteils (Juli 2014) geschätzte 1 900 Frauen vom Verbot betroffen. Betroffene Frauen berichteten seitdem wiederholt, dass sie sich auf der Straße nicht mehr sicher fühlen. Manche vermeiden gar, vor die Haustür zu gehen oder holen ihre Kinder nur noch mit dem Auto ab. In den Niederlanden, auf dessen Vermummungsverbot sich die Luxemburger Vorlage stützt, sollen geschätzte 100 bis 200 Frauen betroffen sein. Der niederländische Text, der bisher in erster Lesung angenommen wurde und seitdem wegen der Wahlen auf Eis liegt, beruft sich ebenfalls auf das Zusammenleben und die Kommunikation.

Rechtsextreme Vorlage

Was Braz nicht sagte: Die Debatte in den Niederlanden um ein Vollverbot islamischer Gesichtsschleier war 2005 von der offen islamfeindlichen, rechtsextremen Partei PVV um Geert Wilders angestoßen worden. Dem setzte die Koalition 2012 aus Sozialdemokraten und Liberalen einen eigenen Entwurf eines Teilverbots entgegen. Der Aufschrei im traditionell sich als liberal verstehenden Land war zunächst groß. So hatte sich der Staatsrat, das höchste juristische Beratungsgremium der Regierung, mehrfach dagegen ausgesprochen. Ein Verbot sei nicht notwendig und „nicht mit der Religionsfreiheit vereinbar“. Erst im November vergangenen Jahres, vor dem Hintergrund eines erstarkten Geert Wilders, stimmte das Parlament dem Text zu.

Auch in Luxemburg beugt sich nun die blau-rot-grüne Koalition dem Druck von rechts. CSV und ADR fordern beide ein generelles Vermummungsverbot im öffentlichen Raum. Obschon der Justizminister von Radio- zu Zeitungsinterview eilt und beteuert, die Vorlage sei „keine inhaltliche Kurswende der Regierung“ (Wort), ist sie genau das: Premierminister Xavier Bettel hatte noch im November betont, die Regierung bleibe der Ansicht, „dass ein Burkaverbot nicht notwendig ist, da die Gemeinden bereits jetzt über die nötigen Kompetenzen verfügen“. Damals wollte die Regierung die heiße Kartoffel den Gemeinden überlassen. Inzwischen hat sie ihre Taktik geändert, auch auf Druck der LSAP, die fürchtet, Wählerstimmen zu verlieren. Arbeitsminister Nicolas Schmit und LSAP-Parteichef Claude Haagen hatten sich öffentlich für ein Vollverschleierungsverbot ausgesprochen.

Er wolle 105 Diskussionen in 105 Gemeinden vermeiden, sagte Braz am Montag. Am 8. Oktober sind Gemeindewahlen. Das Gesetz solle landesweit Rechtssicherheit bringen. Sollte der Justizminister gemeint haben, mit einer scheinbar salomonischen Kompromissformel beiden Lagern, den Befürwortern sowie den Gegnern eines Burkaverbots, den Wind aus den Segeln zu nehmen, so hat er sich getäuscht. Die Burka-Debatte ist keineswegs vorbei; sie nimmt, im Gegenteil, an Fahrt auf: Sowohl der CSV als auch der ADR geht der Entwurf der Regierungskoalition nicht weit genug. Und die sozialen Netzwerke in Luxemburg kennen fast kein anderes Streitthema mehr.

Ines Kurschat
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