Ja, es ist immer wieder schön, wenn Respekt gefordert wird. Respekt ist eine edle Eigenschaft, die angeblich wahre Größe und menschliche Demut verrät. So heißt es zumindest offiziell. Kann es überhaupt etwas Großherzigeres geben, als andere Menschen anzuerkennen oder gar zu bewundern? Was aber, wenn sich das Objekt des Respekts als nicht respektwürdig erweist? Oder anders gefragt: Wieso soll ich respektieren, was ich im Grunde verabscheue? Nur weil mir befohlen wird, mich respektvoll zu verhalten? Wer erteilt mir einen solchen Auftrag? Jene, die sich meinen Respekt erzwingen, weil er für sie opportun ist? Und die mich im Gegenzug gar nicht respektieren, weil sie mich nur für einen wohlfeilen Respektlieferanten halten?
Die respect.lu-Vertreterin Karin Weyer begibt sich mit folgender Definition aufs Glatteis: „Toleranz heescht, datt ech (zähneknirschend) Saachen acceptéieren, déi ech komplett donieft fannen“, (RTL, 7.8.24). Sind hier nicht die Kategorien verrutscht und ein paar Begriffe durcheinandergeraten? Tolerieren heißt ertragen oder erdulden, akzeptieren hingegen gutheißen oder begrüßen. Beides kann man nicht auf eine Stufe stellen. Was ich völlig daneben finde, muss ich bekämpfen, auf keinen Fall aber als legitime Meinungsäußerung oder Handlung akzeptieren. Mit dem Zähneknirschen allein ist es nicht getan. Wer so argumentiert, der riskiert, dass ihm vor lauter Knirschen bald das ganze Gebiss zerbröckelt. Und am Ende erscheint der demütig Zähneknirschende als Verlierer, der nachgibt, wo er unter keinen Umständen nachgeben darf.
Muss ich einem Abgeordneten grundsätzlich Respekt zollen? Nur weil er im Parlament sitzt? Habe ich auf abstrakte Weise sein Mandat zu achten? Der Amtsträger muss zunächst einmal nachweisen, dass er die parlamentarischen Ehren verdient. Ist er verfassungstreu? Berücksichtigt er als Volksvertreter die Standpunkte und Interessen aller Bevölkerungsgruppen? Falls ja, hat er selbstredend Respekt verdient. Falls nicht, stelle ich mir die Frage: Was hat er im Parlament verloren? Benutzt er die Tribüne für seine eigenen Zwecke? Missbraucht er sein Amt, um ausschließlich die Agenda seiner Anhänger voranzutreiben? Einer, der sich jeden Respekt verspielt, ist der ADR-Abgeordnete Weidig. Er haftet sich das scheinbar unantastbare Etikett „Parlamentarier“ ans Revers, um sich ungestraft als Verleumder und Hetzer zu profilieren. Weil er Immunität genießt (wieso eigentlich?), hält er sich für berechtigt, mit der Verfassung Schlitten zu fahren.
Seine Parteipräsidentin pocht mit auffälligem Nachdruck darauf, Herr Weidig sei schließlich ein gewählter Volksvertreter. Damit insinuiert sie, Kritik an diesem Herrn sei nicht angebracht, ganz gleich was er öffentlich von sich gibt. In anderen Worten: Sein Abgeordnetenstatus macht Herrn Weidig zur heiligen Kuh. Genauso penetrant präzisiert die Präsidentin, die AfD müsse in Deutschland selbstverständlich regieren können, da sie ja gewählt sei. Sie fordert nichts Geringeres als Respekt vor dem Willen der Wählerschaft. Muss ich ihr folgen? Verdient „der Wähler“ tatsächlich uneingeschränkten Respekt? Auch er muss den Beweis erbringen, dass er nicht beabsichtigt, die Demokratie zu gefährden. Wenn er eine Partei wählt, die sich offen gegen die demokratischen Institutionen stellt, treibt er Schindluder mit seinem Wahlrecht. Die ADR-Präsidentin hätte vermutlich kein Problem damit, folgerichtig zu behaupten: Selbstverständlich musste Adolf Hitler in Deutschland regieren können, denn er wurde ja gewählt. Welche Art Respekt steht Herrn Weidigs Wählerschaft denn zu? Muss ich anerkennen, dass da Verblendete an die Wahlurne pilgern, die sich von Rattenfängern Sand in die Augen streuen lassen? Muss ich einfach zur Kenntnis nehmen, dass irregeleitete Bürger demokratische Grundprinzipien über den Haufen werfen?
Vor den Parlamentswahlen 2023 veröffentlichte die Zeitschrift Forum einen Aufruf von Vertretern der Zivilgesellschaft, der rechtsextremen ADR keine Tribüne mehr in den Medien zu bieten (cf. Cordon sanitaire). Begründet wurde dieses Plädoyer mit konkreten Verlautbarungen und Handlungen exponierter ADR-Kandidaten. Von Herrn Weidig ist unter anderem folgende Nichtswürdigkeit überliefert (Facebook, 3.8.2017): „Net all Land huet die Eier kritt als deitschen Gau am eiwegen deitschen Reich derbei ze sinn als Volldeutsche!“ (für die Schreibfehlerflut ist allein der ansonsten als Luxemburgisch-Radikalinski agierende Verfasser veranwortlich). Im Klartext: Worüber beschwert ihr euch, ihr blöden Luxemburger? Freut euch doch, dass Hitler euch mit offenen Armen in sein Terror-Reich aufgenommen hatte!
Hat sich Herr Weidig je von seiner entsetzlichen „Volldeutsche“-Sentenz distanziert oder irgendeine Entschuldigung verlauten lassen? Gehört diese Ungeheuerlichkeit nach wie vor zu seinem politischen Reisegepäck? Auch seine Partei schien sich an der nazistischen Wortwahl nicht zu stören. Ganz im Gegenteil: Sie spielt alles herab, verniedlicht die Exzesse ihrer Vertreter, unternimmt gar nichts und fordert zu allem Überfluss uneingeschränkte Meinungsfreiheit für ihre Mitglieder und Anhänger.
Jedes Jahr lädt die Regierung, wie jetzt eben am 13. Oktober, zur Journée de commémoration nationale. Dieses Zeremoniell soll an die Leiden der Luxemburger Bevölkerung während der Nazibesatzung erinnern und steht unter dem Motto „Nie wieder!“ Zeitgleich sitzt im Luxemburger Parlament ein Hitler-Verherrlicher, der schon allein durch seine Präsenz im Hohen Haus die staatlichen Gedenkfeiern verhöhnt.
Und Herr Weidig schreckt nicht vor einer weiteren Kränkung der Naziopfer zurück: Er hat die Unverfrorenheit, sich ausgerechnet beim Mahnmal auf dem Kanounenhiwwel hinter den Regierungsvertretern aufzupflanzen, ganz so, als sei er ein bedeutender Militant gegen die Nazifizierung. Wie soll man diesen rüpelhaften Auftritt an der nationalen Gedenkstätte nennen? Demonstrative Unehrenhaftigkeit? Und wieso kam es keinem der illustren Teilnehmer in den Sinn, dem anwesenden Provokateur energischst einen Platzverweis zu erteilen? Doch das erlaubt man sich lieber mit wehrlosen Bettlern. Herr Weidig ist schließlich „family“. Man kennt sich, man gehört zum gleichen inneren Kreis. Der dreiste Provokateur wird geflissentlich übersehen. Er schändet in aller Öffentlichkeit die Erinnerungskultur, und keiner hindert ihn daran. So wird die Gedenkfeier zur hohlen Geste, weit entfernt von echter Einsicht und Besinnung. Ein betrüblicheres Lehrstück über unangebrachten Respekt – man könnte auch sagen: über Feigheit und Verantwortungslosigkeit – lässt sich kaum finden. Leider war beim Staatsakt kein couragierter Schuldirektor wie Tom Delles zugegen, der den unverschämten Scheinheiligen ganz sicher in die Schranken verwiesen hätte.
Voltaire wird das Zitat zugeschrieben: „Ich bin nicht einverstanden mit dem, was Sie sagen, aber ich würde bis zum Äußersten dafür kämpfen, dass Sie es sagen dürfen.“ Da kommen einem glatt die Tränen. Was soll diese rührselige Gaukelei? Wie passt dieser zugespitzte Denkspruch zu Herrn Weidigs Auslassungen? Soll ich tatsächlich „bis zum Äußersten dafür kämpfen“, dass er sein Nazi-Gedankengut verbreiten darf? Voltaire schrieb allerdings auch: „Dummköpfe zu ertragen ist sicherlich der Gipfel der Toleranz.“ Dieser ironische Einwurf ist immerhin ein Trost.
Hilfreich wäre es vielleicht, ein Konzept der „offensiv-selektiven Akzeptanz“ einzuführen: keine Toleranz für Intolerante, keine Duldung von Unduldsamen. Anders gesagt: Jeder demokratisch Gesinnte hat das Recht, wenn nicht gar die Pflicht, Personen abzulehnen, die selber den demokratischen Rechtsstaat ablehnen. Wenn die Grundvoraussetzung nicht erfüllt ist, nämlich der Meinungsstreit im Rahmen der demokratischen Übereinkunft, macht es keinen Sinn, den Kontakt oder das Gespräch zu suchen. Man diskutiert nicht mit Menschen, die jede Diskussionsbereitschaft sofort als Schwäche auslegen und entsprechend für ihre Zwecke instrumentalisieren.
Herr Weidig ist hier und jetzt ein Mensch, der mit sehr gefährlichen Ansichten hausieren geht. Näher zu untersuchen, wie es dazu gekommen ist, mag lehrreich und plausibel sein. Untauglich wäre hingegen, aus dieser Grundlagenforschung auch nur den Anflug von Nachsicht abzuleiten. Denn es geht darum, im aktuellen politischen Diskurs Herrn Weidigs Auffassungen mit aller Entschlossenheit abzulehnen. Auch wenn er dann wieder auf seine bewährte Masche zurückgreift und sich zum Opfer der Meinungsunterdrückung stilisiert. Diese Selbstviktimisierung ist bei Rechtsextremen ohnehin Programm. Sie dient dazu, die eigenen Ansichten zum unanfechtbaren Diktum zu erklären. Daraus folgt: Wer mich kritisiert, ist ein Feind der freien Rede. Auf diese heimtückische Attrappe sollten wir nicht hereinfallen.
Ablehnung ist übrigens eine Meinungsäußerung wie jede andere. Wer sich konsequent auf demokratische Vernunft beruft, muss nicht ständig erzählen, warum er eine demokratische Gesinnung hat. Die sollte als selbstverständlich gelten.
Die Art und Weise wie Herr Weidig neulich Noémie Sadler, die Vorsitzende der Menschenrechtskommission, charakterisierte (Facebook, 30.9.24), spricht Bände: „Déi nei Presidentin vun der Mënscherechtskommissioun ass e Feind vu richteger Meenungsfräiheet an direkter Demokratie. Si wëll 10 000 Bierger verbidden, hir Meenung ze soen an enger Petitioun! Et ass skandaléis an en Ënnergruewe vun eiser Demokratie. D’Macht gëtt vun de gewielte Volleksvertrieder aus an net vun enger net-gewielter sougenannte Mënschrechtskommissioun, déi kloer lénksideologesch besat ass. Et ass quasi e politesche Putsch. Si wëll als Kommissioun décidéiere wat richteg a falsch an alles wat hinnen net gefält ass illegal. Krass. Mir brauche keng sou eng Kommissioun“ (Nota bene: Alle Luxemburgisch-Fehler und sonstigen Sprachschnitzer sind einmal mehr in Herrn Weidigs Garten gewachsen).
Zum Streitpunkt: Was hat Noémie Sadler gesagt? Der Kernsatz ihrer Ausführungen zu jener Petition, die LGBTQ-Themen aus den Schulen verbannen will, lautet: „Diese Petition hätte von der zuständigen Kommission so nicht zugelassen werden dürfen, weil sie die ethischen Grundsätze nicht respektiert.“ Das ist ein glasklares Bekenntnis zur Essenz der Demokratie. Alles, was sich über die grundlegende Ethik hinwegsetzt, hat im Parlamentsforum nichts zu suchen. Die Frage ist demnach, warum die Petitionskommission diesen offensichtlichen Verstoß gegen die Verbindlichkeit der Ethik nicht abblockte. Warum versteckten sich die Kommissionsmitglieder parteiübergreifend hinter prozeduralen Haarspaltereien? Warum sagten sie nicht klar und deutlich: Diese Petition ist in der Sache nicht annehmbar? Haben Parlamentarier etwa nicht den Auftrag, Schaden von der Demokratie abzuwenden? Und vor allem entschieden den Anfängen zu wehren?
Unterdessen deformiert Herr Weidig Noémie Sadlers Aussage nach Belieben. „Richtige Meinungsfreiheit“ und „direkte Demokratie“ vertreten ausschließlich die Rechtsextremen. Wer das nicht anerkennt, wird zum Abschuss freigegeben. Um sein Exklusivrecht zu untermauern, fährt Herr Weidig gegenüber Andersdenkenden gröbstes Geschütz auf: Verbot, skandalös, Untergraben der Demokratie, politischer Putsch, illegal, krass – man wähnt sich auf einer Wahlkampfveranstaltung des tobsüchtigen Donald Trump. Auffällig auch Herrn Weidigs haltloser Hinweis, die Macht gehe allein von den gewählten Volksvertretern aus. Mit dieser ohnehin reichlich naiven Behauptung diskreditiert er alle außerparlamentarischen Inititiativen, also im Grunde genommen das Recht auf Opposition und Kontrolle.
In einem RTL-Interview wurde der Parlamentsvorsitzende Wiseler gefragt, wie er zu den unerträglichen Facebook-Kommentaren gewisser Abgeordneter stehe. Er redete sich einmal mehr heraus mit der schalen Bemerkung: „Ech sinn nëmmen zoustänneg fir dat, wat an der Chamber gesot gëtt.“ Was heißt das? Ist Herr Weidig kein Parlamentarier mehr, sobald er das Parlamentsgebäude verlässt? Darf er dann über die Stränge schlagen, wie es ihm gefällt, und ganz nebenbei seine eidesstattlichen Versprechen aushebeln? Genauso unverbindlich zog sich Wiselers CSV-Kollege Frieden aus der Patsche. Er sei „nullement“ einverstanden mit Weidigs Attacke auf die Menschenrechtskommission. Das war’s dann schon. Nichts weiter als eine abgeschmackte Floskel ohne jegliche Konsequenz. Bei so viel Hasenfüßigkeit und Duckmäusertum können wir das Thema wehrhafte Demokratie demnächst wohl abschreiben. Die Untätigkeit der obersten Staatsrepräsentanten wird die niedlichen ADR-Demokratievernichter freuen.
Der Journalist Stefan Kuzmany bringt das bittere Dilemma treffend auf den Punkt (Spiegel, 10.10.24): „Die größte Gefahr für die Demokratie ist sie selbst – erlaubt sie doch ihren Gegnern, zumindest theoretisch, sie auf demokratischem Wege abzuschaffen.“ Und jetzt? Uns bleibt nur, mit Bertolt Brecht zu klagen: Der Vorhang zu und alle Fragen offen.