Ja, es ist immer wieder schön, wenn Menschen ihre Meinung äußern. Meinungen sind Wissensersatz. Je weniger wir wissen, umso mehr Meinungen brauchen wir. Mit dem Wissen machen wir leider fast nur schlechte Erfahrungen. Es ist nämlich unermesslich. Sobald wir uns ein weiteres Stück Wissen angeeignet haben, merken wir, dass sich im Verborgenen noch viel mehr unerschlossene Fakten türmen. Möchten wir uns dem aktuellen Wissensstand der Menschheit annähern, treten wir eine Reise ins Ungewisse an. Wir werden buchstäblich erschlagen von der Fülle des Wissenswerten.
Mit Meinungen verhält es sich zum Glück anders. Sie sind handlich, praktisch und biegsam. Man kann sie nach Belieben locker aus dem Hemdsärmel schütteln, sie unterliegen keiner Qualitätskontrolle. Wissen ist immer unflexibel, streng und pingelig. Es stellt höchste Anforderungen an sich selbst, es muss überprüfbar, nachweisbar und belegbar bleiben. Die Meinung hingegen ist eine Sache der ungehemmten Selbstermächtigung. Wir erlauben uns selber in vermeintlicher Autonomie, etwas zu meinen.
Die wesentliche Frage ist, in Abwandlung eines berühmten Zitats von Guy Helminger: „Wie wichtig bin ich mit meiner Meinung, und wenn ja, warum?“ Ist meine Meinung etwa interessengesteuert? Oder parteikonform? Oder weltanschauungsabhängig? Oder bin ich unbefangen meinungsfreudig, weil ich mich als unabhängiger Bürger einbringen möchte? Gilt meine Meinung nur für mich? Oder erwarte ich mir, dass sich Andersmeinende meiner Meinung unterordnen?
Die vielbeschworene „Streitkultur“ wäre also im Kern ein Aufruf zur Selbstdisziplin. Oder anders gesagt: Lassen wir den Disput laufen, wie er läuft, die besseren Argumente werden sich durchsetzen. Doch diese zivilisierte Form der Auseinandersetzung ist längst außer Kraft gesetzt. Neuerdings eskaliert fast jeder Meinungsstreit ohne Umschweife zum gnadenlosen Meinungskrieg. Gestützt von den asozialen Hetzwerken (früher: soziale Netzwerke), treten immer mehr Meinungsträger auf, die sich entschieden abwenden vom minimal respektvollen Umgang mit Kontrahenten. Sie ziehen dem geduldigen Abwägen, dem offenen Dissens, dem lustbetonten Ringen um Standpunkte den brutalstmöglichen Angriff auf Andersmeinende vor. Ihre Losung lautet: Ich denke, was ich will, aber du darfst nicht denken, was du denkst. Ich berufe mich mit pathetischer Geste auf Meinungsfreiheit, aber du sollst nicht einmal im Ansatz deine eigene Meinungsfreiheit beanspruchen.
Nichts gegen Polemik, wohlverstanden. Eine Debatte soll ja kein saft- und kraftloses Gesäusel sein. Es darf ruhig mal dick aufgetragen und mit harten Bandagen gestritten werden. Meinungskombattanten müssen sich nicht mit Samthandschuhen anfassen. Im Eifer des Gefechts sind kleine Ausrutscher und Entgleisungen wirklich kein Debakel. Lieber ein scharf gewürzter Text als eine fade Abhandlung. Man will ja die Leserschaft bei der Stange halten. Jeder weiß: Durch Reibung entsteht Wärme. Oder im Idealfall: Einsicht. Und man kann immer noch den offenen Ausgang loben: Du darfst das so sehen, ich sehe das anders. Aber wenn ein einzelner Meinungsträger bewusst ausschert und sich selbst nach bester Ayatollah-Tradition zur unfehlbaren Instanz stilisiert, ist die Debatte am Ende, bevor sie begonnen hat.
Diese ichbezogene Verstocktheit mündet über kurz oder lang unweigerlich im Ruf nach Zensur. Der Andersmeinende soll mundtot gemacht werden. Verpasst dem unbequemen Meinungsträger einen Maulkorb! Grenzt ihn aus! Belegt ihn mit Berufsverbot! Lasst ihn nicht mehr zu Wort kommen! Ja, vor dieser besessenen Feindmarkierung sind wir alle nicht gefeit. Immer wieder liegt die Versuchung nahe, den einfachen Weg einzuschlagen: Wer uns widerspricht, den räumen wir weg. Punkt. Schluss. Die Frage ist nur: Wohin soll diese Blockadehaltung führen? Muss neuerdings jede Polemik nach dem Muster „runtermachen, zum Abschuss freigeben, erledigen“ ablaufen?
Das Problematische an dieser Einstellung ist, dass sie diversen Möchtegerndiktatoren Vorschub leistet. Mehr und mehr besetzen unverschämte Demokratiesaboteure und Verfassungsverächter aus der „Dat ass mir komplett wurscht“-Fraktion à la ADR die Bühne. Diese Herrschaften fackeln nicht lange. Sie verstehen sich selber als unantastbare Heilsbringer, die sich dazu berufen fühlen, alle Andersmeinenden zurechtzustutzen. Je bescheidener der politischer Radius, umso großmäuliger die auftrumpfende Rhetorik. Je mickriger die eigenen Leistungen, umso aufsässiger das empörte Gezeter und Geschrei.
Betrachten wir ein anschauliches Beispiel. Der ADR-Abgeordnete Tom Weidig treibt es immer dreister, nur um mit Provokationen seine mediale Präsenz zu sichern. Als lokales Trümpchen (Diminutiv von Trump) weiß er, was er seinem amerikanischen Lehrmeister schuldet: Wenn gar nichts mehr geht, weil der Widerstand der Angegriffenen Raum greift, einfach noch einen draufsetzen und bis zum Exzess mit Enormitäten um sich schmeißen. Das entsprechende Narrativ bedienen auch die deutsche AFD und die Republikanische Partei in Amerika: Korrupte Eliten kontrollieren Staat und Gesellschaft, man muss sie entlarven und verteufeln. Genau auf dieser Linie versucht es Weidig mit völlig sinnlosen Attacken. Er verlangt zum Beispiel den Rücktritt der Vorsitzenden des Centre pour l’égalité de traitement und des Escher Resistenzmuseums, nur weil sie es wagten, Kritik an der allseits umstrittenen Petition 3198 anzumelden. Wie bitte? „Er“ fordert den Rücktritt? In welcher Eigenschaft? Als selbsternannter Großinquisitor? Man sieht, wie Weidig immer rasanter dem autoritären Größenwahn verfällt. Woher nur nimmt er das Recht, ständig mit seinem Despotengehabe vorzupreschen?
Wenn er sich nämlich überwindet und leibhaftig bei der verhassten „Lügenpresse“ auftritt, ist er plötzlich sanft und verständnisvoll. Man erkennt ihn sozusagen nicht wieder. Seine Konfrontation bei RTL mit Tom Hecker war ein einziges Lehrstück dieser feigen Unterwürfigkeit. Kein Wort zu seinem Gastgeber, keine knallharte RTL-Verurteilung wie in seinen Facebook-Posts. Nein, nein, er respektiert selbstverständlich Andersartige und Andersdenkende, ja, ja, auch er leidet unter Diskriminierung und kann die Gefühle seines Gegenübers absolut nachvollziehen. Über diesen sonderbaren Sinneswandel konnte Tom Hecker sichtlich nur staunen. Zu Recht, denn nur ein paar Stunden später holte Weidig in seinem safe space namens Facebook schon wieder zum Schlag gegen die
LGBTQIA+-Community aus. Seit kurzem brüstet er sich sogar damit, genau sein RTL-Trauerspiel sei wohl der Auslöser jener ominösen Petition 3198 gewesen, die sich in den Schulbetrieb einmischt und „Nichtkonforme“ unsichtbar machen möchte. Was lernen wir daraus? Es ist völlig sinnlos, mit hartgesottenen Falschspielern à la Weidig eine Diskussion oder gar einen Dialog anzustreben. Eine Brandmauer ist kein Kaffeekränzchen.
Wer mit der Abrissbirne arbeitet, schert sich nicht länger um Nuancen. Der Andersmeinende wird präventiv mit Unterstellungen eingedeckt. Das geht sehr schnell. Eine einzige Bemerkung beispielsweise über den Großverbrecher Netanjahu, schon heißt es: Du gottverdammter Antisemit! Und wenn ich ein Antisemit bin, leugne ich bestimmt auch den Holocaust. Und wenn ich den Holocaust leugne, verharmlose ich bestimmt auch alle anderen Massenvernichtungen der Menschheitsgeschichte. Im Handumdrehen kommen die Scharfrichter um die Ecke und bezichtigen mich, meine Menschenfreundlichkeit nur bösartig zu simulieren. Und schon ist die Bahn frei für allerlei Unappetitliches: Plötzlich bin ich wahlweise ein hamas-glorifizierender Antisemit oder umgekehrt ein Israelkomplize und Genozidleugner, ein People-of-colour-Verächter und White-supremacy-Apologet oder umgekehrt ein halbblinder Black-power-Bewunderer und geistig beschränkter Verfolger aller Weißhäutigen, ein glühender AFD-Anhänger und gnadenloser Linksextremistenschreck oder umgekehrt ein linksversiffter Terrorist und Volkes-Stimme-Saboteur. Ich werde zur Projektionsfläche und zum Müllabladeplatz für abstrus widersprüchliche Verdächtigungen. Im günstigsten Fall bescheinigen mir die Scharfrichter: Der Ärmste sitzt zwischen allen Stühlen. Doch das wiederum heißt: Er will seine grauen Zellen nicht benutzen, er verweigert das Nachdenken, er ist zutiefst unsolidarisch, er schmort im eigenen Saft.
Was also tun? Geht es nicht anders? Ohnehin ist jeder Meinungsstreit in einem sicheren Land wie Luxemburg der reinste Luxus. Er bleibt in der Regel ohne lebensbedrohliche Folgen. Wer hierzulande Kritik übt, muss (noch) nicht damit rechnen, im Gefängnis oder in der Strafkolonie zu landen. Wir können uns erlauben, Prioritäten zu setzen, mit denen man sich andernorts in Todesgefahr begibt. Wer in Rafah oder Charkiw im Bombenhagel sitzt, hat wahrhaftig andere Sorgen, als bis zuletzt auf Unterscheidungsmerkmale oder Identitätsdifferenzen zu pochen. Ob am Ende die Todesnachrichten korrekt gegendert sind oder nicht, ist dann nur eine tragisch lächerliche Nebensächlichkeit.
Brechen wir also beherzt eine Lanze für die Wohltaten der Ironie. Sie erlaubt es, Streitthemen in der Schwebe zu halten. Die Doppeldeutigkeit und Zweischneidigkeit der Ironie kann zugleich verfahrene Meinungsschlachten entschärfen. Sie lässt immer durchblicken: Bei aller erbitterten Rechthaberei sind wir am Ende nur Todgeweihte, und zwar ohne Ausnahme. Ironie relativiert, weil sie es ermöglicht, über unsere sturen Prinzipien und felsenfesten Überzeugungen zu lachen. Anders gesagt: Als Streitender bin ich jederzeit genauso lächerlich wie mein Gegner. Das nennt sich ausgleichende Gerechtigkeit. Es lohnt sich nicht, todernst auf Meinungshoheit zu beharren. Leider verschwindet die schöne Kunstfertigkeit der Ironie immer auffälliger aus den öffentlichen Debatten. Ironikern wird vorgeworfen, die schlimme Lage der Welt nicht ernstzunehmen. Auf dem Feld der kontroversen Meinungen haben zunehmend jene das Sagen, die mit religiöser Inbrunst garantiert humorfrei ihre unumstößlichen Dogmen diktieren.
Die obligate Humorlosigkeit ist förmlich das Wechselgeld der ideologischen Extremisten. Eine andere Währung können sie nicht zulassen. Ihre starren Denkgebäude wären sofort einsturzgefährdet, wenn man sie mit subversiver Ironie unterminiert. Sie vertragen kein Augenzwinkern, kein Angebot zur Güte und zum Einlenken, kein Grinsen und kein versöhnliches Kichern. Sie setzen einzig und allein auf lückenlose Sturheit. Sie sind unbelehrbar und unbekehrbar. Wenn man ihnen die eigenen Widersprüche unter die Nase reibt, geraten sie nicht etwa ins Wanken, sondern versteifen sich, mauern sich ein, kramen reflexartig neue Vorwürfe und Beschimpfungen hervor. Sie sind immer im Recht. Zugeben, dass sie wie alle anderen fehlbar sind und gelegentlich arg danebenliegen, kommt nicht in Frage. Es gilt nur die eigene Überheblichkeit und Überbewertung.
Wir hingegen möchten lieber hübsch aufmüpfig bleiben und unser Grundrecht auf flächendeckende Verulkung verteidigen. Und auf Selbstveräppelung natürlich, das versteht sich von selbst. Alles, was Sie hier lesen, kann von vorne bis hinten angefochten werden. Hier stehen keine unumstößlichen Wahrheiten und keine Glaubenssätze. Keiner muss sich von dieser Prosa inspiriert fühlen. Niemand zwingt Sie, dem Unterzeichneten beizupflichten. Sie dürfen ruhig über diesen Text lachen. Denn Sie studieren hier nur eine einzelne Meinung unter unzähligen anderen.
Ganz wohl ist uns bei dieser demonstrativen (oder ironischen) Gelassenheit nicht. Wir sind umzingelt von verkrampften Blasphemiejägern. In dieser bierernsten Grabenkampfgesellschaft hat die Satire einen schweren Stand. Unsere doktrinären Gegenspieler haben längst die Parole ausgegeben: Wer als Erster lacht, ist tot. Und jetzt? Uns bleibt nur, mit Bertolt Brecht zu klagen: Der Vorhang zu und alle Fragen offen.