Ja, es ist immer wieder schön, wenn Eltern ihre Kinder auf Händen tragen. Diese zartbesaiteten, zerbrechlichen Wesen verdienen es, nach Kräften abgeschirmt und behütet zu werden. Mit der Brutalität der Welt werden sie noch früh genug konfrontiert. Man muss sie ja nicht von der Wiege an ins Elend stürzen. Eltern sind gut beraten, ihre Kleinen in Watte zu packen. Oder sofort in einen dauerhaften safe space zu verfrachten. Wenn sie mit ihren Schützlingen reden, sollten sie vor allem darauf achten, unablässig zu betonen: Du bist der/die Beste. Du bist der/die Einmalige. Dir ist keiner gewachsen. Du steckst alle anderen in die Tasche.
Die Brutalität der Welt äußert sich besonders krass in der Schule. Machen wir uns klar: Was ist die Schule? Nichts anderes als ein Ort des Grauens und der Grausamkeit, eine fatale Einrichtung zur Trennung von Kindern und Eltern. Die Kleinsten werden aus den Schutzvorrichtungen der Eltern entfernt und für ein Experiment zwangsrekrutiert, das sich „soziale Kompetenz“ nennt. Man reißt sie aus dem kuscheligen Elternnest und setzt sie in einen Klassensaal, wo es von Fremden wimmelt. Auf diesen traumatischen Einschnitt sollten Eltern ihren Nachwuchs vorbereiten. Kevin, pass auf, trau deinen fremden Klassenkamerad/innen nicht. Sie wollen dich alle nur unterbuttern. Nora, du musst dich nicht gleich sozial verhalten, nur weil Asoziale dich dazu auffordern. All diese Fremden wollen dich zu Fall bringen. Wir aber wollen nur dein Bestes.
Wie unerhört repressiv die Schule mit jungen Menschen umspringt, möchten wir anhand eines authentischen Luxemburger Falls illustrieren. Die Presse hat neulich die merkwürdige Angelegenheit wieder aufgegriffen (siehe Luxemburger Wort, 3.7.24). Im Frühjahr 2022 wirft ein Jugendlicher Flaschen aus dem zweiten Stock seiner Schule. Postwendend verhängt die Schule eine Strafe: Der Flaschenschleuderer muss nachsitzen, ihm wird die berüchtigte „Retenue“ aufgebrummt. Das nehmen seine Eltern nicht hin, sie ziehen vor Gericht, weil ihnen zufolge die Persönlichkeitsrechte ihres Sohnes verletzt wurden. Wir möchten vorausschicken: Derart couragierte Eltern sind ein leuchtendes Vorbild. Schade nur, dass sie fast keine Nachahmer finden.
Was genau ist eine „Retenue“? Nichts weiter als Isolationshaft. Ein ertappter Schüler wird stundenweise eingekerkert und von einem übelgelaunten Wärter überwacht (vermutlich ein Stagiarprofessor, der zum Notdienst abkommandiert wurde). Versucht der Eingesperrte zaghaft, mit seinem Wärter einen anregenden Dialog einzufädeln, schallt es ihm knallhart entgegen: Halt die Klappe, du Flasche! Nicht einmal humane Haftbedingungen werden hier respektiert. Der Sträfling wird behandelt wie der letzte Dreck. Das prangern wir entschieden an.
Es wird nämlich gezielt unterschlagen, was für ein hochbegabter Schüler der arme Knabe ist. Wahrscheinlich hat er schon in frühen Jahren davon geträumt, einmal ein berühmter Physikexperte zu werden. In der Tat beherrscht er die physikalischen Grundgesetze aus dem Effeff. Vielleicht war sein Flaschenwurf nichts anderes als eine Demonstration, an der sich seine Mitschüler/innen ein Beispiel nehmen sollten. Vielleicht wollte er mit Sachverstand und Akkuratesse vorführen, wie sich fliegende Objekte im Raum verhalten. Mit welcher Geschwindigkeit fallen Flaschen? Welche Flugbahn beschreiben sie? Was geschieht, wenn sie aufprallen? Es ist doch eine Binsenweisheit, dass bei physikalischen Experimenten immer mal wieder Flugkörper durch die Lüfte wirbeln. Warum sollte einem experimentierfreudigen Schüler verwehrt bleiben, was einem gestandenen Physiklehrer jederzeit erlaubt ist?
Ist es nicht tröstlich, dass wenigstens die liebevollen Eltern ihr Kind in Schutz nehmen? Vielleicht schmeißt er auch zu Hause mit Tassen und Tellern um sich, die Eltern sind gerührt und ergötzen sich an der permanenten Physiklektion. Sie sagen sich: Unser Kind hat eine große Karriere vor sich. Bald wird es in den Hörsälen der famosesten Universitäten seine Künste zum Besten geben. Wir lassen nicht zu, dass ihm in der Schule das Genick gebrochen wird. Wenn die Schulleute nicht in der Lage sind, frühreife Wissenschaftskoryphäen zu erkennen und zu fördern, sind wir gezwungen, gegen die Schule vorzugehen. Vor den grünen Tisch mit diesen unbedarften Amateuren! Die Richter sollen sie zur Höchststrafe verdonnern.
Leider wird immer wieder von einer lautstarken Minderheit dazwischengefunkt. Bezeichnen wir sie mit dem Sammelbegriff: Feinde des christlichen Abendlandes (Fecal). Berserkerhaft verteidigen sie die öffentliche Schule. Wenn man ihnen zuhört, hat man den Eindruck, die Schule sei eine fortschrittliche Baustelle für das Gemeinwesen. Sie scheuen sich nicht einaml, die Institution Schule als eine wichtige Reparaturwerkstatt zu bezeichnen, in der lädierte Kinder völlig erziehungsunfähiger Eltern wieder zusammengeflickt werden. Außergewöhnlich talentierte Schüler wie unser Flaschenschmeißer werden von den Fecal-Aktivisten als Störer, Systemsprenger und Gefährder der sozialen Harmonie verunglimpft. Das ist empörend ungerecht gegenüber Kindern, die sich durch hohe schöpferische Intelligenz auszeichnen.
Wir müssen unbedingt wieder unserem Bauchgefühl vertrauen. Da wir Luxemburger in der Regel stattliche Bäuche haben, verfügen wir über viel Lagerkapazität für das besagte Gefühl. Aus dem Bauch heraus erklären wir uns die Welt. Das unterscheidet uns von den verdammten Fecal-Anhängern, die nur aus dem Kopf heraus argumentieren. Sie schwafeln ständig von der Ratio, der Mitmenschlichkeit, der Achtung, der Hilfsbereitschaft, der Akzeptanz und verwandten Hirngespinsten. Sie führen das „gemeinschaftliche Denken“ ins Feld, das Erlernen der „polyvalenten Gemeinsamkeit“, oder den angeblichen Auftrag der Schule, rücksichtsvolle und empathische Bürger/innen mit ausgeprägter Frustrationstoleranz heranzuziehen. Kopflastiger geht’s wohl nicht. Wir hingegen betonen energisch: der Bauch ist unser zentrales menschliches Organ. Der Kopf ist nur ein nutzloses und überflüssiges Anhängsel, ähnlich wie der Blinddarm.
Wir militanten Bauchmenschen brauchen dringend wieder starke Vorbilder. Beispielhafte Eltern, echte Vorreiter von Güte, Zuwendung und Fürsorglichkeit. An den verantwortungslosen Rabeneltern (ausnahmslos aus Fecal-Kreisen), die ihre Kinder bedenkenlos der gefährlichen, moralisch verkommenen Schule ausliefern, dürfen wir uns nicht orientieren. Vielmehr sollten wir uns anregen lassen durch ein fabelhaftes Paar, das hierzulande wie kein zweites die Werte der anspruchsvollen Elternschaft verkörpert: Wir reden von unserm wunderbaren Erbgroßherzog und seiner nicht minder betörenden Gattin.
Diese nachahmenswerten königlichen Hoheiten haben den Morast der öffentlichen Schule längst durchschaut. Sie kümmern sich höchstpersönlich um ihre Kinder und bewahren sie so vor dem Verderben. Damit ihre Kinder optimal wachsen und gedeihen, bauen sie ihnen und sich sogar ein Schloss mit allen Schikanen, einen wunderschönen Raum für die freiheitliche Entfaltung ihrer Nachkommen. Wie wohldurchdacht dieses Projekt ist, zeigt sich allein an der Tatsache, dass das neue Schloss unmittelbar neben dem alten Schloss errichtet wird. Kein sturer Separatismus also, keine Abkapselung oder Abwendung, sondern ein ostentativ freundliches Neben- und Miteinander. So kann das erbgroßherzogliche Paar jederzeit seinen Eltern und Schwiegereltern zur Seite springen, wenn diese sich vor Altersschwäche oder seelischer Not im Labyrinth des alten Schlosses verirren sollten (sofern sie nicht rechtzeitig ins Fischbacher Exil oder aufs Altenteil in Biarritz abgeschoben werden). Es ist ja nur ein Sprung von Alt zu Neu. Der Erbgroßherzog wird es sich nicht nehmen lassen, täglich einen kleinen Kontrollgang zu absolvieren, um nachzuschauen, ob seine betagten Eltern noch nicht auf Nimmerwiedersehen in den unzähligen Räumen des alten Schlosses verschollen sind. Denn sollte diese Fatalität eintreten, muss er ja sofort auf den Thron springen.
Die wundersame Schlösservermehrung, die unser verehrter Erbgroßherzog angestoßen hat, ist übrigens auch ein Paukenschlag wider die herrschende Wohnungsnot. Seine Königliche Hoheit zeichnet den Rettungsweg vor: Schluss mit dem ewigen Gejammer. Hören wir auf mit der ständigen Schlamperei im Baugewerbe. Bauen wir mehr Schlösser. Stante pede und ohne Widerrede. Schalten wir die störrischen Bürgermeister/innen kurz. Stampfen wir die Baugenehmigungen tausendfach aus dem Boden.
In Colmar-Berg war der Erbgroßherzog natürlich auf Widerstand gefasst. Dort herrscht nämlich eine Piratin, also eine Art furchterregendes Gegenstück zu Johny Depp in seiner Rolle als Schrecken der Karibik. Kein Wunder, wenn diese freibeuterische Dame Kleinholz aus dem Erbgroßherzog machen würde: Ich lasse mir nicht von einem drängelnden Blaublütigen diktieren, wie ich meine Gemeinde zu führen habe! In Colmar-Berg werden alle Einwohner nach den gleichen Maßstäben behandelt. Nix Baugenehmigung, nix Verschandelung der Natur, und wenn der größenwahnsinnige Schlossherr immer noch nicht klein beigibt, muss ich eben auf die klassische Piratenprozedur zurückgreifen: Säbel raus, Augenklappe aufsetzen, Totenkopfflagge hissen, das königliche Areal mit meinen Gemeindevasallen stürmen und besetzen, den Erbgroßherzog samt Gattin fesseln, notfalls die Kinder kidnappen zu ihrem eigenen Wohl.
Doch oh Wunder! Nichts von alldem. Die amtierende Piratin küsste dem Erbgroßherzog sofort die Füsse. Alle PAG/PAP-Beschränkungen in Windeseile aufgehoben, die Baugenehmigung ultraschnell aus dem Hut gezaubert, das Piraten-Credo über Bord geworfen. Das zeigt plastisch, welche Überzeugungskraft ein makelloser Vater ausstrahlt, der vor Liebe für seine Kinder fast schmilzt. Wenn sogar eine knallharte Piratin weich wird und sich im Nu zur glühenden Monarchistin wandelt, wird es sicher ein Leichtes sein, auch andere, viel behäbigere und verschlafenere Bürgermeister/innen im Handumdrehen für die Schlösseridee zu gewinnen.
Ja, unser Erbgroßherzog hat vollkommen recht. Jedes Kind verdient ein schönes Schloss. Und zwar mit Helikopterlandeplatz im Vorgarten. Damit seine besorgten Eltern sofort ausschwirren können, wenn sich Unheil im öffentlichen Raum – lies: in der Schule – ankündigt. Let’s make it happen! Wenn wir uns ein bisschen anstrengen, können wir sogar zum Land mit der weltweit höchsten Schlösserdichte werden. Wir müssen nur den abgegriffenen Spruch My home is my castle umkehren: My castle is my home! So nähern wir uns mit Riesenschritten dem Ideal aller leidenschaftlichen Helikoptereltern: Jedes Kind soll ein Prinz oder eine Prinzessin sein, unantastbar in seiner glanzvollen Unübertrefflichkeit.
Die Fecal-Bande wird einwenden (können Sie überspringen): „Ja, wer von Gottes Gnaden lebt, das heißt von unseren Steuergeldern, der kann sich alles leisten. Dee ka sech och e Luxusstall fir seng verwinnte Schwäi bauen.“ Wie bitte? Hören wir recht? Verwinnte Schwäin? Redet ihr so von Kindern, die großzügig mit Liebe überschüttet werden? Davon kann es gar nicht genug geben, ihr verhärmten, verkopften, vergammelten, neidischen Rabauken.
Außerdem geht es hier um die Behebung der Wohnungsnot und nicht um das Gottesgnadentum. Wer persönlich motiviert ist, kann sich auch Gottes Gnade sichern. Einfach einen Antrag stellen, die Vorladung abwarten, dann beherzt vor die Gottesgnadentum-Jury treten und nachweisen, dass man in der Lage ist, es dem Erbgroßherzog gleichzutun. Aber das kriegt keiner hin. Weil hier alle immer schon aufgeben, bevor es ernst wird. Meckern und pöbeln fällt eben leichter. Es ist einfach nur billig und trist, die eigenen Versäumnisse auf unseren gottbegnadeten Erbgroßherzog abzuladen. Dieser Mann macht wenigstens konstruktive und kinderfreundliche Wohnungsbaupolitik. Und jetzt? Uns bleibt nur, mit Bertolt Brecht zu klagen: Der Vorhang zu und alle Fragen offen.