Konstruktive Provokation. Wie sehr ein Name Programm sein kann, das zeigt die gleichnamige Ausstellung des Vorarlberger Architekturinstituts (Vai) und des französischen Architekturinstituts (Ifa), welche auf der diesjährigen Semaine du Logement zu sehen war. Auf fünf Holzstellelementen, mit großformatigen Fotos und kleinen Sichtfenstern in Szene gesetzt, konnten Besucher erstmals auch in Luxemburg nachvollziehen, was unter ausländischen Architekten und Landesplanern längst als Kulturrevolution gilt: Zwischen Bodensee und dem österreichischen Arlberg hat sich eine hochmoderne Architektur etabliert, die in Europa ihresgleichen sucht - und die dennoch die Traditionen und Bedürfnisse der Region und ihrer Bevölkerung nicht aus den Augen verliert. Da finden sich ebenso einfache, wie raffiniert gebaute Reihenhäuser aus Holz, die aufgrund ihrer intelligenten zeitlosen Bauweise es ihren Bewohnern erlauben, funktional und bequem zugleich zu wohnen. Leitgedanke der sich ab Mitte der Sechziger konstituierenden Vorarlberger Bauszene, zu deren Pioniere politisch quer denkende Lehrer, Künstler und Architekten wie Franz Bertel, Hans Purin, Leopold Kaufmann oder Roland Gnaiger zählen, war die Nachhaltigkeit. Keineswegs nur als Modewort: ressourcenschonende und energiesparende Gebäude zu bezahlbaren Preisen zu bauen, die sich zudem gut in die Landschaft einfügen, war und ist das Ziel der so genannten "Baukünstler“. "Alltagsarchitektur" nennen das deren Vertreter heute, und sie erstreckt sich nicht nur auf Häuser und Wohnanlagen, sondern auch auf Gewerbeparks, Schulen, Seilbahnen, ja sogar Kirchen. Selbst in entlegenen Winkeln, hoch oben auf Gebirgswiesen, findet sich so manch elegant geschwungener Bau: mal fast gänzlich aus Holz gebaut, dem dominierenden Material der "Vorarlberger Schule“, aber auch Stahl, Glas und Sichtbeton finden Verwendung – meist als Teil eines Gesamtenergiekonzeptes. Vorarlberg hat heute die größte Dichte an Niedrigenergie- und Passivhäusern in Österreich. Die mitunter spektakulär anzuschauenden Bauten ziehen europaweit Menschen in den Bann. Aus Frankreich, Deutschland, Schweiz und Italien reisen die Architekturtouristen an; inzwischen hat sich eine regelrechte Reisebranche mit Vorträgen und Rundgängen, sowie Übernachtungen in hölzernen Avantgarde-Hotels entwickelt. Und das ist nicht der einzige Bereich, der boomt. Seit 1997 sind die Umsätze im Holzbau um über 70 Prozent gestiegen, Studenten der Holzbaukunst und der Architektur pilgern von überall her ins Vierländereck. Ganze Landstriche sind zu neuem Leben erwacht und gelten heute als begehrte Wohn- und Arbeitsräume. Die Baukultur sei inzwischen Teil eines "Bürgerstolzes“, sagt die Vorarlberger Architektin und Vai-Direktorin Marina Hämmerle im Gespräch mit dem Land. Hämmerle, vergangenes Wochenende in Luxemburg zu Gast, betont die Bedeutung der Identifikation bei größeren architektonischen Umwälzungen. Erst allmählich, mit viel Engagement und dank "effizienter und lebensnaher Lösungen" sei es gelungen, anfänglich bestehende Widerstände gegen die neuartige Architektur zu überwinden und sie stattdessen als "regionales Kulturgut" zu etablieren. In Vorarlberg seien die Aufgabenstellungen nicht anders als in Luxemburg, schreibt das Wohnungsbauministerium in seinem Grußwort, und es wird klar, was sich der Veranstalter von der Gastausstellung erhofft: Neue (Bau-)Perspektiven eröffnen, zeigen, dass technologisch und gestalterisch hochwertige, umweltbewusste Ar-chitektur auch in Luxemburg Antworten auf Fragen wie der Zersiedelung der Landschaft, Umbrüche in Gesellschaft und Wirtschaft, zunehmender Auflösung bestehender sozialer und kultureller Strukturen geben könnte. Wenn sie denn jemand wollte. Zum Expo-Rundgang mit keiner Geringeren als Ifa-Vizedirektorin Marie-Hélène Contal persönlich fanden sich drei Personen ein. Auch sonst war von Provokation kaum etwas zu spüren. Wenige Messebesucher blieben bei den Holzwänden stehen. "Wat ass dat?", fragte ein älterer Herr ratlos, als er hinter ein Klappfenster blickte. Mit den Info-Schiebeelementen wusste er auch nichts anzufangen, vielleicht weil niemand da war, um sie ihm zu erklären? Die Ratlosigkeit und Skepsis des Besuchers ist symptomatisch für die Art und Weise, wie moderne und insbesondere ressourcenschonende Architektur dreizehn Jahre nach dem Weltgipfel für Nachhaltigkeit im Rio de Janeiro hierzulande immer noch wahrgenommen wird. Es gibt sie kaum. Dabei hatte eine Studie zur Einführung von Niedrig- und Passivenergiehäusern, die der Oekofonds seinerzeit für das DP-geführte Umweltministerium er-stellte, sogar auf Vorarlberg hingewiesen: als Vorbild für nachhaltiges Bauen in der Region, an dem sich Luxemburg wegen ähnlicher sozioökonomischer Strukturmerkmale gut orientieren könne. Viel passiert ist dennoch nicht. Das Thema Bauen und Wohnen ist derzeit wieder in aller Munde – kein Wahlkampf ohne wohnungsbaupolitische Versprechen –, doch die Gemeinden mit wirklich innovativen und zugleich energiesparenden Bauprojekten lassen sich an einer Hand abzählen. In Putscheid im Naturpark Our wurde vor kurzem eine von Umwelt- und Innenministerium mitfinanzierte Siedlung mit Niedrigenergiehäusern fertig gestellt. Die kollektive Solaranlage, die 60 Prozent des Energiebedarfs für die Warmwasseraufbereitung deckt, wird durch eine Hackschnitzelfeuerungsanlage auf Holzbasis ergänzt, die Wohnbauten sind durch eine Energiezentrale miteinander vernetzt. Statt der heute üblichen 100 bis 150 Kilowatt pro Quadratmeter und Jahr brauchen die hoch gedämmten „Drei-Liter-Häuser“ nur noch 30 Kilowatt. Mit einem Kaufpreis von 250 000 Euro aufwärts sind sie nicht gerade preiswert, auch die Anbindung ans öffentliche Verkehrsnetz könnte besser sein, aber immerhin: Wegen niedriger Betriebskosten dürften die Eigentümer gegenüber konventionellen Hausbesitzern auf lange Sicht die Nase vorn haben. Zumal wenn die Ölpreise weiter so rasant steigen wie bisher. Eine EU-Richtlinie zur Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden, die bis zum Frühjahr 2006 umgesetzt werden soll, will Schluss machen mit der Verschwendung von Energien durch schlechte Isolierung oder veraltete Heizungs- und Dämmtechniken. Von einem Umdenken in Richtung mehr Energieeffizienz vor allem bei Privatleuten ist in Luxemburg aber noch wenig zu spüren. Deshalb erstaunt es auch nicht, dass der Einspareffekt vielen Besuchern der Putscheider Musteranlage offenbar nicht so wichtig war. Die "ungewöhnliche Mixtur" habe die Menschen interessiert, sagt Albert Goedert vom Escher Architekturbüro Beng, verantwortlich für Planung und Umsetzung des Putscheider Projektes. In der Siedlung stehen Appartementhäuser, Maisonettes und Einfamilienhäuser nebeneinander – bewusst, um einen höheren Grad an sozialer Durchmischung zu bekommen. Der Verkauf verlief gleichwohl eher schleppend, vier Jahre nach offiziellem Verkaufsstart sind noch zwei Häuser zu haben. Wie wenig Begeisterung viele Luxemburger für nachhaltiges Bauen und neue Wohnformen bislang aufbringen, zeigen auch die Erfahrungen um das Modellprojekt in Walferdingen. Schon 1987-88, zum Europäischen Umweltjahr, lagen erste Pläne für eine "ökologisch und sozial gebaute" Siedlung auf dem Tisch. 1996 war es soweit und die ersten Besitzer und Mieter konnten in die mit Grasdächern bedeckten Energiesparhäuser einziehen. Diese zeigten sich neun Jahre später im Gespräch mit dem Land ganz zufrieden mit ihrer Wahl. Umso überraschter war eine Besitzerin, als sie jüngst bei einer Wahlveranstaltung die Meinung anderer Anwohner erfuhr: Sie standen der Wohnanlage äußerst skeptisch gegenüber. Besonders der Gemeinschaftsansatz sorgt für Irritationen. Die Bewohner der Ökosiedlung teilen verschiedene Verantwortlichkeiten, etwa die Instandhaltung des anliegenden Spielplatzes. Feste Gewohnheiten, falsche Vorstel-lungen und wenig Wissen über alternative Wohnformen - das sind weiterhin die wichtigsten Gründe dafür, warum umweltbewusste Wohnprojekte wie Walferdingen und Putscheid in Luxemburg noch immer ein Nischendasein fristen. Der Traum vom Einfamilienhaus mit großem Garten ist aus, beschwören Gemeinde- und Landespolitiker gebetsmühlenhaft – die freilich oft genau den Lebensstil frönen, vor dessen negativen Folgen sie heute warnen. Teilnehmer des im Rahmen der Wohnungsbauwoche auf Kirchberg organisierten Rundtischgespräches vernahmen einmal mehr den dringenden Appell, es müsse mehr, verdichtet, und vor allem preiswerter gebaut werden. Ebenfalls nicht neu ist, dass Gemeinden und Ministerien sich gegenseitig die Schuld für die nun schon Jahrzehnte andauernde Wohnungsbaumisere gegenseitig zuschieben. Die Gemeinden klagen über klamme Kassen und fehlende finanzielle Unterstützung durch den Staat. Das Wohnungsbauministerium kontert mit dem - richtigen - Hinweis, Gemeinden könnten jederzeit Gelder beim Staat für Erschließung, Planung und Umsetzung von Bauprojekten beantragen. Nach der Landesplanungsreform sei es nunmehr an den Gemeinden, die Initiative zu ergreifen. Einige wichtige Überlegungen tauchten auf dem Podium hingegen gar nicht erst auf: Wie können Luxemburgs Architekten, Politiker und Planer gemeinsam neue architektonische Leitbilder und umweltschonende Baukonzepte, wie es sie anderswo schon seit Jahrzehnten gibt, an den Mann beziehungsweise an die Frau bringen? Welche Architektur passt heute ins Dorf und die Gemeinde, wer wohnt dort und was brauchen die Bewohner heute? Diese drängenden Fragen einer Zeit, in der immer mehr Menschen in die Randgemeinden und aufs Land drängen, werden hierzulande immer noch lediglich in kleinen Fachzirkeln diskutiert. Wenn überhaupt. Statt zukünftigen Bauherren und -damen, sowie Bauträgern innovative Wohnmodelle nahe zu bringen, Mut zum unkonventionellen, energiebewussten Bauen zu fördern, präsentierte sich die achte Wohnungswoche so, wie sich das Gros der luxemburgischen Bauszene darstellt: ideen- und fantasielos. Wer nicht regelmäßig Zeitung liest und nur flüchtig hinschaut, könnte die wenigen Großprojekte wie "Nonnewiesen" in Esch oder den Siedlungsbau in der Gemeinde Schüttringen glatt übersehen. Ein paar lieblos aufgehängte Pläne von Grundrissen mögen Architekten und Planern etwas sagen – als Kundenwerbung für unkonventionelle Bauvorhaben taugen sie nichts. Dabei passiert punktuell durchaus etwas: In Howald entsteht derzeit Luxemburgs erstes Pas-sivenergiehaus ganz aus Massivholz. Ein umweltbewusster privater Bauherr, ein junges Architekturbüro (Teisen und Giesler) und fachliche Unterstützung aus dem Ausland machen es möglich. Binnen drei Tagen stand der Holzrohbau - ein Beweis, dass sich heutzutage auch mit nachwachsenden Rohstoffen zügig bauen lässt. Selbst die vergleichsweise strengen Bauvorschriften verhinderten die Bauinnovation nicht. Auf den ersten Blick ist das Massivholzhaus kaum von den nebenstehenden Gebäuden zu unterscheiden. Ein hoch entwickeltes Wärmedämmungssystem und großflächig nach Süden ausgerichtete Fenster verbessern aber nicht nur den Wohnkomfort, sondern auch die Betriebskostenbilanz spürbar. Dass Folgekosten wie der Energieverbrauch von Beginn an mitbedacht werden, setzt sich erst allmählich durch. "Es braucht oft nur eine Person", antwortet Marina Hämmerle auf die Frage, wie es möglich war, anfängliche massive Vorbehalte innerhalb der Vorarlberger Bevölkerung und bei den Gemeindeoberen im Laufe der Jahre weitgehend zu überwinden. Und sie fügt mit einem Lächeln hinzu: "So lange sie an der richtigen Stelle sitzt." Fast alle Pionierbauten der "Baukünstler" entstanden als Privatinitiative von unten. Zunächst wurde vor allem für Verwandte oder Freunde gebaut. Aufgeschlossene, der neuen Baukunst wohlgesinnte Bürgermeister und liberale Bauvorschriften halfen, dass aus Ideen von Einzelpersonen schnell eine Architekturszene heranwuchs, die heute das Markenzeichen einer ganzen Region ist und international als herausragendes Referenz für nachhaltiges Bauen gepriesen wird. Mut zum Risiko und Lust an einer im doppelten Sinne "konstruktiven Provokation", über die durchaus kontrovers diskutiert werden kann, sind weitere wesentliche Merkmale, die die "Vorarlberger Schule" prägen. In Luxemburg sind das noch Fremdwörter.
Ines Kurschat
Kategorien: Jugend, Wohnungsbau
Ausgabe: 15.09.2005