Zehn Jahre lang ging alles gut. Auf einmal ging gar nichts mehr. Statt Gesprächen am Frühstückstisch und gemütlichen Fernsehabenden gab's ständig Streit. Es dauerte wenige Wochen, dann stand fest: Das Haus wird verkauft, Mutter und Vater trennen sich; der 17-jährige Sohn fand sich zwischen den Stühlen wieder. Die Qual der Wahl, bei ihm oder ihr, wollte er nicht. Weil beide Eltern es sich leisten konnten, bezahlten sie dem Jungen kurzerhand ein Studio in der Stadt. Ein Jahr später hatte er das Abitur in der Tasche. Heute studiert der 20-Jährige in Deutschland Sprachen. Mit seinem Vater und seiner Mutter versteht er sich wieder gut, beide trifft er regelmäßig. So viel Glück im Unglück gibt es nicht immer. Für etliche Kinder und Jugendliche beginnt mit dem Streit zu Hause eine persönliche Achterbahnfahrt. Hin und her gerissen zwischen Vater und Mutter, vom neuen Lebensgefährten ignoriert oder angefeindet, durch Dauerknatsch, Angst und Verzweiflung zermürbt, bekommen die Jungen und Mädchen oft keinen Fuß mehr auf den Boden. Andere sind fortwährend gestresst, weil Armut und Arbeitslosigkeit das tägliche Leben erschweren oder Gewalt und Drogenmissbrauch das Familienleben zur Hölle machen. Sie können sich nicht mehr konzentrieren, lassen im Unterricht nach. Manch einer bricht die Schule ab und die Zelte zu Hause, versucht, sich so durchs Leben zu schlagen. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Von 1 200 Schulabbrechern im Alter bis zu 24 Jahren, das hat eine interne Studie zum Schuljahr 2003/2004 des Sekundarunterrichts des Bildungsministeriums ergeben, hat ein Viertel Arbeit gefunden. Ein weiteres Viertel befindet sich in einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme, und wiederum etwa ein Viertel, 322 Jugendliche, macht gar nichts. Und mit jedem Monat und jedem Jahr schwinden die Chancen, nach dem Schulabbruch einen Beruf zu erlernen, Geld zu verdienen und somit auf eigenen Beinen zu stehen. Unabhängig werden, trotz Familienfrust und Schulschwierigkeiten das eigene Leben wieder in den Griff bekommen - dabei helfen betreute Wohnprojekte für Jugendliche. Ein neues, das Sozialarbeiterinnen des schulpsychologischen Dienstes des "Lycée technique du Centre" (LTC) in Zusammenarbeit mit der "Wunnéngshëllef" auf die Beine gestellt haben, hat die Tage mit der Arbeit begonnen. In einer geräumigen Villa in Bonneweg leben ab sofort acht Schülerinnen und Schüler aus der Stadt Luxemburg und Mamer in einer Wohngemeinschaft zusammen. Offiziell vorgestellt wird das Projekt Ende Oktober. In dem Haus werden die Jugendlichen, die alle-samt aus schwierigen familiären Verhältnissen stammen, ihren Alltag gemeinsam gestalten - und lernen. Denn eine der Bedingungen, um aufgenommen zu werden, ist das - ernst gemeinte - schriftliche Versprechen, sich intensiv um einen Schulabschluss zu bemühen. Weitere Kriterien für eine Aufnahme sind: die Volljährigkeit, eine die schulischen Leistungen beeinträchtigende anhaltende Krisensituation und kein Geld, um sich auf dem freien Wohnungsmarkt eine Bleibe zu suchen. Die 300 Euro Monatsmiete bezahlen die Jugendliche zumeist mit einem Mix aus Kindergeld, Zuschüssen vom schulpsychologischen Dienst und Unterhaltsgeld von den Eltern. Wenn diese denn zahlen. Außerdem wird von jedem Teilnehmer verlangt, sich aktiv in die Gemeinschaft einzubringen: an den Hausversammlungen, die alle zwei Wochen stattfinden, ebenso wie an den Beratungsgesprächen mit den Betreuerinnen. Sie schauen zweimal im Monat bei den Jugendlichen vorbei. Die low-level-Betreuung, wie es im Projektentwurf heißt, ist bewusst gewählt und soll die Jugendlichen allmählich dazu befähigen, das Zusammenleben und den eigenen Alltag selbstständig zu meistern. Wer diese Spielregeln verletzt, fliegt raus. Schulschwänzer und Drückeberger sind unerwünscht. Die Idee eines Wunnraum fir Schüler ist nicht neu. Ein ganz ähnliches Projekt hatte es bereits 1997 auf dem Limpertsberg gegeben. Damals in Kooperation mit der inzwischen aufgelösten A.s.b.l. "Wunnraum fir Studenten". Im Jahr 2004 fiel das Einfamilienhaus, in dem sechs Jugendliche seinerzeit Platz und Betreuung fanden, an den Träger beziehungsweise an das neu gegründete Studentenwerk der Uni Luxemburg zurück. Die Suche nach einem Ersatzobjekt gestaltete sich extrem schwierig; erst mit dem neuen Partner, der Hilfsorganisation für sozial benachteiligte Wohnungssuchende "Wunnéngshëllef", konnte etwas Passendes gefunden werden. Die acht Plätze stellen aber lediglich den berühmten Tropfen auf dem heißen Stein dar. Bislang gibt es zwar keine offiziellen Statistiken darüber, wie viele Jugendliche eine solche Ersatzbleibe brauchen; die Projektbeschreibung nennt 93 Anfragen zwischen den Jahren 1998 und 2004 allein für das LTC. Die Wartelisten der Heime, Internate und betreuten Wohnstrukturen im Land, das kritisieren Sozialpädagogen seit Jahren, sind lang. Da suchen Mädchen und Jungen aus Schrassig oder Dreiborn ein Dach über den Kopf, Straßenkids, die seit Monaten auf Trebe sind oder luxemburgische wie nicht-luxemburgische Jugendliche, deren Lebensstil bei den Eltern nur Unverständnis und Ablehnung erzeugt. Sechs Monate müsse er häufig auf einen Wohnplatz für volljährige Jugendlichen warten, sagt Caritas-Streetworker Thomas Köhl-Brandhorst. Für eine Krisenintervention sei das viel zu lang. Zudem haben manche Einrichtungen sehr rigide Regeln, was vor allem bei den mitunter schwiertigen Verhaltensmustern seiner Klientel Probleme verursache. Solche Institutionen eignen sich dann nur eingeschränkt für eine Zusammenarbeit. Neben mehr Auffangstrukturen für Jungen und Mädchen in Krisensituationen, in denen diese Selbstständigkeit und eigenverantwortliches Leben lernen, fehlt es aber auch an Grundsätzlicherem: In der staatlichen Wohnungspolitik kommen Jugendliche so gut wie nicht vor. Dabei betrifft sie die miserable Lage auf dem Wohnungsmarkt im Prinzip wie all die anderen Wohnungssuchenden auch. Der Fonds du Logement meldete in seinem Tätigkeitsbericht 2004, dass die Nachfrage nach seinen Wohnungen leicht zurückgehe - entgegen dem allgemeinen Trend steigt der Anteil der jungen Antragsteller aber. 273 Personen zwischen 18 und 25 Jahren reichten beim Fonds im vergangenen Jahr einen Antrag auf eine Wohnung ein. Nicht anders ist die Lage bei der "Wunnéngshëllef": Dort machen Jugendliche zwischen 18 und 26 Jahren mit 57 Personen fast die Hälfte aller Anfragen aus. Ebenfalls etwa die Hälfte hat Glück und wohnt bereits in einer Sozialwohnung der Hilfsorganisation - pädagogische Betreuung inbegriffen. "Normale Jugendliche sind gebeten, bei ihren Eltern zu wohnen", antwortet Marc Kayser von der Stadt Luxemburg halb ironisch, halb im Ernst auf die Nachfrage, welche Angebote die Stadt für die Jugend bereithält, die nicht länger zu Hause wohnen will. Tatsächlich bleibt den jungen Leuten bei den exorbitanten Preisen auf dem Wohnungsmarkt oft gar nichts anderes übrig: 600 Euro Miete monatlich kostet derzeit in der Regel ein Studio, Preise von 450 Euro und mehr für ein 15 Quadratmeter großes Einzelzimmer sind keine Seltenheit. Für einen Jugendlichen ohne gut bezahlten Job, zumal einen Schüler, ist das unbezahlbar - es sei denn, er wird vonzahlungskräftigen und -willigen Eltern unterstützt. Wohl dem, der da schon sein Abitur in der Tasche hat und studiert. Das Studentenwerk der Universität Luxemburg, das sich nach Aussage seines Leiters Marc Rousseau als "Alternative zum privaten Wohnungsmarkt" versteht, vermittelt preiswerte Zimmer. Der Mietpreis liegt zwischen 200 und 480 Euro monatlich. Die Unterkünfte werden privat oder beim Fonds du Logement angemietet. Das Problem: Das Angebot richtet sich ausschließlich an Studierende. Obwohl sich das Studentenwohnen erst noch etablieren muss, die Tatsache, dass hinter dem neuen Mieter die Universität Luxemburg und somit Vater Staat steht, hilft dem Studentenwerk bei der Suche nach geeigneten Wohnungen. Einzelstehende Jugendliche, noch dazu welche, die dem Typ "Traum-Schwiegersohn oder -tochter" womöglich nicht entsprechen, haben es bei der privaten Wohnungssuche dagegen wesentlich schwerer. Vielen von ihnen ergeht es wie den vier Schülern, die im Süden nach Räumen für ein gemeinschaftliches Wohnprojekt suchten und kein Geld für eine teure Vermittlungsagentur aufbringen konnten: Anderthalb Jahre später hatten sie noch immer nichts gefunden. "The housing and welfare needs of young people are under-recognised", formuliert der vom Europarat angefertigte Luxemburger Länderbericht zur Lage der Jugend. "We were left wondering where young people live when they leave home, whether in their teenage years, or in their early 20s", rätselten die Jugendforscher bei ihrem Besuch im Großherzogtum vor drei Jahren. Seitdem hat sich die Lage kaum verbessert. Offizielle Statistiken über das Ausmaß der Wohnungsnot unter Jugendliche gibt es nicht. Das Thema Jugend und Wohnen ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt; in den Tätigkeitsberichten des Wohnungsministeriums kommt es nicht vor, im nationalen Jugendbericht von 2001 füllt es gerade einmal eine Seite. Auf der wird eine Untersuchung aus dem Jahr 1993 zitiert, wonach Jugendliche in erster Linie aus pragmatisch-materiellen Gründen zu Hause bei den Eltern wohnen bleiben. In der Ankündigung der "Semaine du logement", die dieses Jahr vom 30. September bis zum 4. Oktober stattfindet, taucht das Recht auf Wohnen, nicht aber die Wohnungslosigkeit auf; der provisorische Bericht zur sozialen Kohäsion des Statec hat den Zusammenhang zwischen Arbeit beziehungsweise Arbeitslosigkeit und Armut untersucht, anders als in Frankreich blieb der Faktor Wohnung jedoch weitgehend ausgeklammert. Dabei dürften überhöhte Mietpreise hier zu Lande ein wichtiger Grund für prekäre Lebenslagen sein. Und mit der steigenden Arbeitslosigkeit von derzeit 4,5 Prozent, so ist anzunehmen, wird die Problematik künftig nur noch dringlicher. Bei den erwerbsfähigen unter 26-Jährigen ist die Zahl vier Mal so hoch: fast 17 Prozent suchen eine Arbeit, nicht-luxemburgische Jugendliche haben es dabei ungleich schwerer als ihre luxemburgischen Kollegen. Vielleicht hat es doch eine tiefere Bedeutung, dass in Frankreich die Politikbereiche Arbeit, soziale Kohäsion und Wohnung einem Ministerium unterstehen, während Luxemburgs Wohnungsbauminister neben dem Wohnungsdossier die Klein- und Mittelunternehmen sowie den Tourismus und die Landwirtschaft betreut. Immerhin: Die Studie über Die Jugend der Stadt Luxemburg: Lebenslagen, Wertorientierungen, Freizeitmuster und Probleme des "Centre d’études sur la situation des jeunes en Europe" (Cesije), für die 876 hauptstädtische Jugendliche befragt wurden, hat das Wohnverhalten der Jugend etwas genauer unter die Lupe genommen und eine Verzögerungsstrategie festgestellt: Bei den 15- bis 18-Jährigen sind es 98 Prozent, die noch beim Vater und/oder der Mutter wohnen, bei den 18- bis 21-Jährigen 93 Prozent. Selbst bei den 22- bis 25-Jährigen ist die Eigenständigkeit nicht sehr weit gediehen: Fast 80 Prozent der Befragten hatten das heimische Nest noch nicht verlassen, obwohl sich ein Großteil bereits in der Berufsausbildung befand oder arbeitete. Den Trend zur „ausgeweiteten Jugendphase“ und der verspäteten Ablösung vom Elternhaus beobachten Jugendforscher auch in anderen Ländern. Als Grund gelten vor allem verlängerte Ausbildungszeiten. Inwiefern er in Luxemburg aber durch die desolate Lage auf dem Wohnungsmarkt noch verstärkt wird, ist unklar. Aktuelle Befragungen darüber, ob und welche Jugendlichen tatsächlich lieber bei den Eltern oder aber in eigenen vier Wänden wohnen würden, und ihre jeweiligen Motive gibt es nicht. Stattdessen wird meistens davon ausgegangen, im "Hotel Mama" lebe es sich, wenn nicht am besten, so doch am bequemsten. Dass es in der Übergangsphase zwischen Familie und Auf-den-eigenen-Beinen-Stehen viel Konfliktstoff und allerlei Hindernisse gibt, betonen Jugendforscher wie Charles Berg vom Cesije schon länger und allgemein bekannt. Ebenso dass sozial benachteiligte Jungen und Mädchen es oft schwerer haben, sich von zu Hause zu lösen als jene mit zahlungskräftigen Eltern. An genaueren Analysen der (Wohn-)Bedürfnisse von Luxemburgs Jugend und vor allem an konkreten Politikansätzen fehlt es aber weiterhin. Die "Wunnéngshëllef" will nicht länger warten. "Das Wohnproblem nimmt stetig zu", sagt Mitarbeiter Carlo Hourscht. Das Netzwerk plant deshalb ein Projekt „Jugend relais“. 14 leicht betreute Wohnungen für Jugendliche in prekären Lebenslagen sollen entstehen, im Süden oder Norden, wo derlei Angebote erst recht Mangelware sind. Derzeit ist die A.s.b.l. auf der Suche nach einem geeigneten Haus - und nach Unterstützern.
josée hansen
Kategorien: Drogenabhängigkeit, Gesundheit, Jugend
Ausgabe: 10.03.2005