Weil sie nichts Anderes gewohnt sind, reimen Presse, Meinungsumfragen und Wahlanalysen sich und ihrem Publikum Politik als Marktwirtschaft zusammen: Politiker sind Dienstleister, Wähler sind Kunden, Wahlen sind der Markt. Diese Erzählung von Angebot und Nachfrage ist ein Oger. Er verlangt ständig frisches Fleisch. Lange lieferten es die Grünen.
Vergangene Woche freute sich RTL: „Et ass een neie Politiker am Ranking vun den Top 10 mat dobäi […] de Pirat Sven Clement” (17.6.2021). Als Unternehmer ist er wie gemacht für eine marktwirtschaftliche Erzählung von Politik. Deshalb hielt ihn über die Hälfte der von TNS Ilres Befragten für sympathisch und kompetent.
Sven Clement stammt aus einer Beggener Angestelltenfamilie. Mit 32 Jahren gilt er als Jungpolitiker. Doch RTL weiß von „Wieler, déi e bësse méi al sinn, zum Beispill bei enger CSV, an déi him hei de beschte Score ginn“. Denn er sieht aus, als wäre er schon in Anzug und Krawatte zur Welt gekommen, um Verkaufsgespräche zu führen und salbungsvolle Parlamentsreden zu halten.
Sven Clement besitzt zur Hälfte die Werbeagentur Clement & Weyer Consulting. Ihr gehört ein Drittel von Accounttech. Die bietet Computerprogramme für Steuererklärungen und Lohnabrechungen an. Der Werbeagentur gehört auch ein Viertel der Internet-Seite Moien. Ihr Überleben hängt von der Reform der Pressehilfe ab. Sven Clement sitzt im zuständigen parlamentarischen Ausschuss.
Auf seiner Internetseite nennt Sven Clement sich „Multi-Entrepreneur in the digital space“. Das klingt etwas hochgestapelt. Der Kleinunternehmer mit dem großen Ego leidet unter seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ohnmacht. Auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung wandte er sich der Politik zu.
Mit zwanzig machte Sven Clement das Geschäft seines Lebens: Er sicherte sich eine Franchise einer obskuren Partei gegen Urheberrechte. Er entkernte sie von jedem politischen Inhalt. Dann benutzte er die Hülle als persönlichen Wahlverein. So konnte er sich seinen Jugendtraum erfüllen: ins Parlament gewählt zu werden und Notabel zu spielen. Für den liberalen Geschäftsmann ist Politik Marketing, die Piratenpartei eine Marke. Er habe seine „politische Profilierung nahezu in Perfektion inszeniert“, schwärmt das Luxemburger Wort (18.6.2021).
Im Herbst 2018 begehrten in Frankreich die Gilets jaunes auf. Zur gleichen Zeit überraschte in Luxemburg die Piratenpartei mit Wahlkampflosungen wie: „Upassung vun der Mindestrent“, „E sozialen Index fir déi, déi e brauchen“, „Police stäerken – Sécherheet fir jiddereen“, „Lëtzebuerger Sprooch respektéieren: fir jiddereen“. Arbeiter, kleine Angestellte, Arbeitslose und Arme wählten die von Mittelständlern geführte Piratenpartei. Das war die Wahlklientel der ADR.
Die ADR wird als politisches Schmuddelkind behandelt. Den Piraten geht alles durch: Prinzipienlosigkeit, interne Streitereien, kreative Buchführung, Sympathien nach ganz rechts. Sie geben sich als Antipartei, aber gemäßigt. Erich Fromm deutete dieses mäßig widerspenstige Kleinbürgertum als „für die anale Haltung überhaupt charakteristische Mischung von Verehrung der väterlichen Autorität, der Sehnsucht nach Disziplin, in merkwürdiger Einheit mit Rebellion“ (Zeitschrift für Sozialforschung, 1932, S. 275).
Bei den Wahlen 2018 hatte Sven Clement eine politische Funktion gefunden: mit seinem Pop-up-Store „Piratenpartei“ den sozialen Protest seiner Wähler einzusammeln und geräuschlos zu entsorgen. Die Sozialdemokratie hat Erfahrung in dieser Branche. Deshalb weissagt das Tageblatt ihm: „[E]ins scheint jedoch sicher: Sven Clement ist gekommen, um zu bleiben“ (18.6.2021). Morgen kann er schon gebraucht werden, um die Mehrheit der liberalen Koalition zu retten. Oder eine andere Mehrheit. Francis Drake wurde zu „Her Majesty’s pirate“ geadelt.