Starökonom Thomas Piketty hat zusammen mit Amory Gethin und Clara Martínez-Toledano vom Laboratoire sur les inégalités mondiales wieder einen 600-Seiten-Wälzer veröffentlicht: Clivages politiques et inégalités sociales. Une étude de 50 démocraties (1948-2020) (Seuil/Gallimard, 2021). Dafür werteten die drei eine Datenbank mit Wahlumfragen und Wahlergebnissen aus fünf Kontinenten aus. Vor allem die Resultate der „sociaux-démocrates (au sens large)“ genannten Linksparteien von den Grünen über die Sozialdemokraten und Linkssozialisten bis zu den Kommunisten (S. 19). Über die Wähler rechter Parteien erfährt man eher ex negativo.
Lange wählten Besitzende und Gebildete rechte Parteien, die Besitzlosen und weniger Qualifizierten linke. Die einen wollten, dass alles bleibt, wie es ist, die anderen wollten auch einmal zum Zug kommen. Dann stellen die Buchautoren für die Achtzigerjahre in Europa und den USA eine Umkehrung fest: Die Reicheren wählen weiter rechts, die Diplomierten nunmehr links. Das nennen sie „des systèmes d’élites multiples“ (S. 19). Auch Ärmere und weniger Gebildete wechselten die Fronten, hin zu rechten bis rechtsextremen Parteien.
Die Datenbank enthält Angaben aus Luxemburg von 1974 bis 2018. Sie wurden nicht ausgewertet. Vielleicht weil das Land zu klein und unbedeutend ist. Vielleicht weil die Autoren die Luxembourg Income Study als Konkurrenz ansehen. Vielleicht weil Luxemburg das einzige Land außerhalb Afrikas und Asiens ist, dessen Datenqualität als „faible“ bezeichnet wird (S. 38).
Waren also die seit 1975 aus Steuermitteln finanzierten Wählerbefragungen und Wahlanalysen von Crisp, CRP Gabriel Lippmann, TNS Ilres und des Lehrstuhls für Parlamentarismusforschung Humbug? Sicher ist, dass diese Analysen zuerst als Wahlkampfhilfen für die Parteien gedacht waren. Weil ihre Methodik sich ständig änderte, vergleichen sie das Wählerverhalten nicht langfristig. Erst ab 1999 zogen sie soziale Kriterien für Wahlentscheidungen in Betracht. Auf der Internetseite des Parlaments befinden sich bloß die Analysen von 2004 und 2009, beim vom Parlament ausgehaltenen Lehrstuhl noch die von 2013. Über die Wahlen von 2018 wurden nur noch einige Powerpoint-Bilder herumgereicht.
Ob es hierzulande unterschiedlich wählende Einkommens- und Bildungseliten gibt, lässt sich aus diesen Wahlanalysen nicht aufschlüsseln. Ersichtlich ist, dass ein bedeutender Anteil hochqualifizierter Leute links wählte: 2013 waren unter den Grünen-Wählern 55,9 Prozent Akademiker, unter den LSAP-Wählern 36,8 Prozent und unter den Linken-Wählern 36,4 Prozent. Das waren viele Beamte. Zudem sind erfolgreiche Studien keine Garantie mehr für hohe Einkommen. Akademische und kreative Berufe sind sogar oft prekär.
Ob das oberste Einkommensdezil der Wahlberechtigten geschlossen konservativ wählt wie in anderen Ländern, lässt sich für Luxemburg nicht feststellen. Das Dezil wurde nie ermittelt. Über viel Geld spricht man nicht. Wahrscheinlich verteilt sich diese Wählerschaft auf CSV und DP wie Bil und BGL, Luxembourgeoise und Foyer. Ihr politischer Einfluss kommt sowieso nicht vom Stimmzettel, sondern vom Kurszettel.
Seit den Achtzigerjahren ist die Arbeiterbewegung in der Defensive, „Neoliberalismus“ genannt. LSAP und Grüne wurden liberal. Die Hälfte der Lohnabhängigen hat als Grenzpendler und Einwanderer hierzulande kein Wahlrecht. Die Wahlberechtigten in den besitzlosen Klassen schauen sich bei rechten Parteien um. Die versprechen ihnen Protektionismus gegen Grenzpendler und Einwanderer, „Identität“ genannt.
Die Wahlanalysen zeigen, dass auf der Rechten Leute mit niedriger Qualifikation und niedrigen Einkommen nicht mehr bloß den LCGB-Flügel der CSV wählen. Bei den Kammerwahlen 2018 zählten sich 20 Prozent der ADR-Wähler und 13 Prozent der Piraten-Wähler zur Arbeiterklasse. Das waren doppelt und drei Mal so viele wie bei LSAP, Linken und Grünen.