Ruhe liegt über dem Vorplatz der Kathedrale, den die Sonne mit einem gelblichen Schleier bedeckt; ein paar Busse fahren die Haltestelle an. Wer durch das hölzene Eingangstor der Kathedrale tritt, dem weht Weihrauch entgegen und tiefe Orgel-Töne erklingen. Der Kathedralenbesucher tauscht den hellen Vorplatz gegen einen gekühlten Raum, durch dessen Fenster sich das Licht nur mit Mühe hindurchdurchkämpft und das dabei die Wände mit unterschiedlichen Farben und religiös-politischer Symbolik bespielt. Das ist wohl die größte kulturelle Leistung von Religion – unabhängig davon wie man zu ihrem Inhalt steht: Sie erinnert uns daran, dass Menschen es schaffen Alterität, herzustellen – mit Gesang, Architektur, bestimmten Rhetoriken, Klängen, Düften, Lichtverhältnissen, Symbolen und Ritualen.
In dieses Schauspiel eingebettet, das mit Außeralltäglichkeit kokettiert, sitzen in der ersten Reihe Paul Galles (CSV), Maurice Bauer (CSV), Laurent Mosar (CSV), Serge Wilmes (CSV) und Lydie Polfer (DP). Das ist kein Zufall. An diesem Dienstagmorgen um 11 Uhr findet eine „Messe für den Stadtrat und die Bewohner der Stadt Luxemburg“ statt. Das DP-Trio Simone Beissel, Patrick Goldschmidt und Colette Mart blieb seinerseits der Kirche fern. Nur zu einem Drittel ist sie besetzt; auf vier Frauen kommt ein Mann. Man sucht neben Serges Wilmes und Paul Galles nahezu vergeblich unter 50-Jährige. In seiner Predigt verwebt der Pfarrer Tom Kerger des Hauptstadt-Dekanats, wie im Großherzogtum nicht unüblich, politische und religiöse Symbolik: Er behauptet, der Schlüssel, den die Statue mit sich trage, sei an seinem rechten Platz aufbewahrt; dieser symbolisiert seit 1666 die Schutzherrschaft Marias über die Hauptstadt. Als neben der Pest und Hungersnöten zusätzlich militärische Konflikte drohten, beschloss damals der Provinzrat, die Muttergottes zur Schutzpatronin der Stadt Luxemburg zu erküren. Gegend Ende der Messe stimmte der Chor am Dienstag zudem in O Mamm, Léif Mamm ein. Ein Text, der das Piconrue Museum in Bastogne in einer Ausstellung über die Muttergottes als regelrechtes Nationalgebet bezeichnete.
Die Muttergottesoktave geht allerdings weiter als 1666 zurück. Vierzig Jahre zuvor, 1624, rief der Jesuitenpater, Jacques Brocquart, die Schüler des Jesuiten-Kollegiums auf, ein Bild der Heiligen Jungfrau am Fuß eines Kreuzes am Glacis zu befestigen. Er gab ihr den Namen „Trösterin der Betrübten“ und als er 1626 an der Pest erkrankte, legte er ein Gelübde ab: Wird er wieder gesund, wird er barfuß zum Gnadenbild pilgern und eine zwei Pfund schwere Kerze aufstellen. Die luxemburgische Madonna erlangte daraufhin Bekanntheit für ihre angeblich heilenden Kräfte – schon bald pilgerten Tausende zu ihr.
Während der Messe bedankt sich überdies der Priester Tom Kerger ausdrücklich für die Anwesenheit von Bürgermeisterin Lydie Polfer. Doch als Teil des katholischen Mikrokosmos fühlt sie sich womöglich nicht. Sie sucht nach der Messe den Ausgang, und Paul Galles das Gespräch mit den Anwesenden. Der promovierte Theologe Galles schaut auch im Bücherzelt der Erwuessenbildung im angrenzenden Innenhof vorbei. Die Erwuessenbildung steht für den ökumenischen und sozial engagierten Flügel des hiesigen Christentums. Der CSV-Abgeordnete Mosar besucht das Bücherzelt nicht, vielleicht nahm der Besserverdiener die Aussage während der Eucharistie-Liturgie „Déi Räich schéckt hie fort mat eidelen Hänn, Alleluja“ zu wortwörtlich. Vielleicht gefällt ihm aber auch der in Bezug auf katholische Verhältnisse linksliberale Kurs der Kirche unter Kardinal Jean-Claude Hollerich und Papst Franziskus nicht. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb unlängst, Kardinal Hollerich, – der vom Papst mit dem „synodalen Weg“ betraut wurde –, sei „so oft im Vatikan“ wie sonst „kein anderer westeuropäischer Kardinal“, um zu unterstreichen, wie eng das Verhältnis zu Franziskus ist.
Auf der Place de la Constitution fand der verspielte Zwilling der Oktav-Gottesdienste seinen Platz, de Märtchen. Die Kinderkarusselle und Verkaufsstände sind nur spärlich besucht, es ist Mittagspause. Die Bänke und Tische hingegen füllen sich. Zwei Freundinnen essen Pommes und unterhalten sich über die Vorteile eines Trockners. Eine Traube Schüler bestellt Bami-Nudeln und wundert sich: „Wat mengs de, wat den Emsatz hei ass? Op der Fouer fluppt et sécher méi.“ In der Mittagspause verändert sich die Kathedrale; Touristen finden mit ihren Shoppingtaschen Platz am Fuße der Consolatrix; ein Mann zündet zaghaft eine Kerze an, während seine Freundin ihn filmt; ältere Damen schieben einen Wischmob durch die Gänge; im linken Seitenflügel beten andächtig zwei schwarze Männer mittleren Alters. Ein Schild hält Schaulustige von ihnen fern; der Seitenflügel ist nur für Betende betretbar. In der Krypta wird wieder ab 13 Uhr gebetet; etwa zehn Personen sind anwesend, davon lediglich ein Mann.
Für den Soziologieprofessor aus Münster, Detlef Pollack, bei dem sich die quantitativen Studien über die Entwicklung der Kirchengemeinschaften stapeln, hat der Mitgliederschwund der Kirche mehrere Ursachen. Während früher – und vor allem in ländlichen Gebieten – die Kirchen die Höhen und Tiefen des Lebens begleiteten, ist „Religion heute zu einer sozialen Option unter vielen“ geworden. Daneben spielen noch andere Faktoren mit, wie „die Individualisierung, die dazu führt, dass Menschen zunehmend über sich, ihr Leben und ihre Religion selbst entscheiden“ und sich skeptischer gegenüber Autoritäten zeigen würden. Nicht zu unterschätzen sei zudem „die wechselseitige Relativierung der Geltungsansprüche von Religion“, die durch eine zunehmende kulturelle Diversität ausgelöst werde, so Pollack gegenüber dem Land. In der Regel aber würden „konfessionell homogene Länder ein höheres Religiositätsniveau aufweisen als Länder, in denen es eine Vielzahl unterschiedlicher Religionsgemeinschaften gibt“. Er denke hier an Italien, Irland, Polen oder auch Dänemark im Unterschied zu den Niederlanden oder Großbritannien. Das ließe sich unter anderem darauf zurückführen, dass in religiös geschlossenen Gebieten die Menschen ihre religiösen Überzeugungen und Praktiken durch Menschen in ihrer Nähe, die eine ähnliche religiöse Orientierung aufweisen, bestärkt sehen, analysiert Pollack.
Anders sei dies in muslimischen Gemeinschaften, „in denen die muslimische Identität zu einem Instrument der kulturellen Selbstbehauptung gegen eine anders eingestellte Mehrheit“ werden kann. Dieses Phänomen beobachte man insbesondere bei den Angehörigen der zweiten und dritten Zuwanderergeneration. Religiöse Pluralisierung kann demnach auch zu einer Intensivieirung der Religiosität führen. „Die Bedingung dafür besteht allerdings darin, dass die Verbundenheit mit der eigenen Religionsgemeinschaft ohnehin schon hoch ist“, erläutert Detlef Pollack.
Als in Luxemburg die Dreierkoalition ab 2013 eine beschleunigte Trennung von Kirche und Staat vorsah, den Religionsunterricht abschaffte sowie die Neuordnung der Kirchenfabriken veranlasste, verwässerte sich der erodierende katholische Block noch mehr. Konkrete Statistiken zur Glaubensausrichtung in der Bevölkerung liegen nicht vor, da die Erhebung von Informationen über religiöse Überzeugungen oder Aktivitäten gemäß Gesetz untersagt ist. Aber Beobachter berichten von leeren Kirchenbänken; die Kommunions- und Firmungsteilnehmer blieben aus und Nachwuchs ist nicht in Sicht, da kaum Kinder den außerschulischen Religionsunterricht besuchen. Wer dennoch auf die Suche nach einem irgendwie spirituellen Angebot geht, stößt auf viele Konkurrenzangebote; dafür muss man nicht viel Stöbern, die Volkshochschulen bieten Meditations- und Ikebanakurse an. Ökospirituelle Gruppen organisieren Erdfeste, an denen Teilnehmer ihre „Existenz auf und mit der lebendigen Erde vertieft“ wahrnehmen sollen. Neo-Schamanen laden zu Schwitzhüttenzeremonien ein.
Aus der christlichen Basis vernimmt man derweil die Kritik, die katholische Kirche hole die Leute nicht ab. Sie spreche eine arkane Sprache, sei nicht zugänglich für Nicht-Initiierte. Dabei sei das Potential groß: Jeder Mensch sei – wenn nicht selbst, so zumindest in seinem Umfeld – mit existenziellen Fragen, Trauer, Leid, Krankheit oder Sinnkrisen konfrontiert. Aber die Kirche schaffe es nicht, zu vermitteln, dass sie mit diesen Themen Erfahrung habe; sie sei in ihren Hierarchien sklerosiert und der Dialog zwischen Klerus und Basis sei weniger partizipativ als Hollerich verkünde.
Der Religionssoziologe Detlef Pollack kennt diese Beanstandungen: Viele würden denken, die zurückgehenden Mitgliederzahlen seien auf das autoritäre und monologische Handeln der Kirche zurückzuführen, während die Sehnsucht nach religiöser Sinngebung in der Bevölkerung weit verbreitet sei. „Tatsächlich ist die religiöse Gleichgültigkeit hoch, die Vorurteile gegenüber den Kirchen stark und die Kenntnisse über die Kirche gering“, führt er aus. Der Mitgliederschwund sei kaum aufzuhalten; was auch immer die Kirchen täten, sie könnten die Menschen kaum noch erreichen: „Die Vorurteile werden natürlich vor allem durch den Missbrauchsskandal bestärkt, so dass selbst positive Erfahrungen, die der eine oder andere vielleicht macht, dadurch entwertet werden“. Vor allem diejenigen, die „der Kirche ihre Verkrustung und Verstaubtheit“ vorhalten, seien nicht Teil einer Kirche und „wüssten nicht, wie man dort mit den Menschen umgeht“, erläutert der Soziologe.
In der fast leeren Krypta am Dienstagmittag steht in einem Glaskasten eine Holzstatue der Trösterin. Pfarrer Norbert Reuter hat sie im Zweiten Weltkrieg anfertigen lassen und sie Luxemburgern in einem Umsiedlungslager in Polen zugeschickt: „Die Sehnsucht nach der heimischen Muttergottes war stark“, steht an der Infotafel nebendran. Überhaupt habe die „die Luxemburger Madonna“ eine große Anziehungskraft während des Krieges ausgestrahlt, erklärt die Tafel. In dieser Zeit avancierte neben der Trösterin der Betrübten auch Großherzogin Charlotte zur „Mutter“ mit nationalem Charakter. Luxemburger Christen verschmelzen Großherzogin Charlotte und die heilige Schutzpatronin in ihrer Vorstellung zu einer nahezu mythischen Einheit. Beide Frauen sollten dem Volk beim Widerstand gegen die Nazis beistehen sowie auch Schutz im Jenseits bieten: Auf Totenandenken aus dieser Zeit waren zugleich die Muttergottes und Großherzogin Charlotte abgebildet. Als 2012 Erbgroßherzog Guillaume und Gräfin Stéphanie in der Kathedrale heirateten, stiftete Maria Teresa dem Gnadenbild ein Hochzeitskleid aus Seide und weißem Nerz – eine gewisse Intimität besteht noch immer zwischen der großherzoglichen Familie und Maria.
Auf das Muttergottes-Prinzip hat die katholische Kirche kein Copyright. Die Vorstellung, dass Gott eine Mutter hat, kam bereits bei der in Rom verbreiteten Verehrung der Göttin Kybele zum Ausdruck. Diese Vorstellung hat sich später mit christlichen Bräuchen und Ikonographien hybridisiert. Auch das Jungfrau-Paradoxon tauchte nicht erst mit dem Christentum auf. Wahrscheinlich wollten religiöse Gemeinschaften so den göttlichen Charakter ihrer Heiligen unterstreichen. Vielleicht deute das Jungfrauen-Motiv aber auch darauf, dass nicht zuvorderst eine Person geboren wurde, sondern eine heilige Kraft, eine Idee, eine symbolisierte Vorstellung – es wird hier viel spekuliert, in Mythen lässt sich viel hineininterpretieren. Die Mondsichelsymbolik, wie sie für Madonnenstatuen in Luxemburg typisch ist, ist ebenso recycelt; dem Kunsthistoriker Hans Belting zufolge stammt sie von der ägyptischen Göttin Isis.
Die Symbolik taucht darüber hinaus in der Apokalypse des Johannes auf, in der eine schwangere Frau vor einem sie verfolgenden Drachen flieht. Ein Kranz von zwölf Sternen umgebe die Frau, die „mit der Sonne bekleidet“ sei und auf dem Mond stünde, so die Beschreibung. Für Kocku von Stuckrad, Professor für Religionswissenschaft, werden bei dieser Beschreibung astrologische Bezüge hergestellt: Sowohl in ihrem numerologischen als auch in ihrem symbolischen Charakter greife die Apokalypse astrologische Metaphern des Sternzeichens Jungfrau auf. Im Altertum sei die Jungfrau aufgrund der Wintersonnenwende als Königin des Himmels und als “kosmische Gebärerin” gedeutet worden. Sie habe nach der Winterzeit kürzere Nächte und hellere Tage angekündigt.
Die Beudeutung der Wunderheilungen hat sich im Verlaufe der Jahrhunderte ebenso verändert. In der Barockzeit kam ihnen im Rahmen der Muttergottesoktav eine zentrale Bedeutung zu. Für die Ausweisung einer – aus praktizierender Sicht – authentischen Kraft des Gnadenbildes waren sie unabdingbar. Heute hingegen werden Wunder – zumindest öffentlich – kaum noch bezeugt. Der Theologe und Priester Georges Hellinghausen nennt als letztes öffentlich ausgehandelte Mirakel eine „etwas absonderliche Heilung“: Der Exorzismus des Apostolischen Vikars Jean Théodore Laurent, der während der Oktave 1842 vollzogen wurde. Im Jahre 1995 richtete die Kirche einen Appell etwaige Wunder mitzuteilen, die auf die Trösterin der Betrübten zurückgehen würden, doch es gingen kaum Rückmeldungen ein.
Die Muttergottes – letztlich eine Metapher aus Holz – steht für vieles. Sie ist ein polyvalentes Bild, eine Projektionsfläche für die – mehr oder weniger – Gläubigen, ihre partikularen Träume, ihre Wünsche, die in den Zeitgeist eingebettet sind und die Herausforderungen einer bestimmten Epoche. Die Madonna ist ein Bild, das in die Innenseite der Wirklichkeit führen soll und trotzdem die Themen einer bestimmten Zeit offenbart: Pest, napoleonische Kriege, Zweiter Weltkrieg, Patriotismus. Insofern braucht man wenig Gespür, um zu vermuten, ihre Bedeutung könne sich in Zeiten von Umweltkrisen wieder hin zur Fruchtbarkeitsgöttin verschieben. Wenn die Religionsgeschichte etwas offenbart, dann dass Religionen nicht in einer Pfadabhängigkeit gefangen sind. Trotzdem bleibt der westeuropäische Katholizismus unter dem demographischen Aspekt in den kommenden Jahren auf Untergangskurs; aus Kirchenkreisen hört man, die Oktave werde möglicherweise bald auf acht Tage zusammenschrumpfen.
Wohin genau die Consolatrix der Hauptstadtkathedrale hinsteuert, ist noch offen. Wie die Religiösität der Christen gelebt werden kann, darüber hat der diesjährige Oktavprediger Theo Klein klare Vorstellungen. Die Oktave stellte er unter das Motto „Der Glaube ist schön“. Seine diesbezüglichen Gedanken erklärt er in seiner Predigt vom 9. Mai, die auf Soundcloud hochgeladen wurde: „Während dieser Oktave versuche ich mit Ihnen gemeinsam einen Weg zu gehen, um die Schönheit des Edelsteins des Glaubens zu entdecken. Gehen wir auf die Entdeckungsreise.“ Klein setzt sich für eine Religiosität ein, die auf Sinnlichkeit und Emotionalität beruht. Er zitiert in seiner Predigt Karl Rahner, der behauptete: „Der Christ von morgen wird ein Mystiker sein oder er wird es nicht mehr sein“. Wir sollten uns berühren lassen von der Schönheit der Natur, ruft Klein aus, der sich häufig auf den Benediktinerpater und Mystiker Anselm Grün beruft. Während der Eucharistie-Anbetung sprach Pfarrer Tom Kerger vor dem Schöffenrat den Satz: „Il est grand, le mystère de la foi“. Ein Satz der während dieser Oktave von Klein zum Programm gemacht wird.
Diese Fassung des Textes korrigiert einen Fehler in der Zeitungsausgabe: Im Jahre 1624, nicht 1642, hatte Jesuitenpater Jacques Brocquart die Schüler des Jesuiten-Kollegiums aufgefordert, ein Bild der Heiligen Jungfrau am Fuß eines Kreuzes am Glacis zu befestigen. Er gab ihr den Namen „Trösterin der Betrübten“.