Innerhalb von nur zwei Stunden erklärte Umweltministerin Carole Dieschbourg (Grüne) vergangenen Freitag zunächst, dass sie den Kammerpräsidenten gebeten habe, ihre ministerielle Immunität aufzuheben. Um dann jedoch vor die Presse zu treten und ihren Rücktritt zu verkünden. Was genau da in ihr vorgegangen war, weiß sie allein. In ihrer Erklärung sagte sie vor allem, das Ministerium schützen zu wollen. Angesichts „der Krisen und Herausforderungen“ sei es „nicht zu verantworten“, wenn die Mitarbeiter des Ministeriums, die schon 2019 im parlamentarischen Umweltausschuss zur Gaardenhaischen-Affäre des früheren Differdinger Bürgermeisters Roberto Traversini Stellung genommen hatten, das erneut durchmachen müssten, wenn das Parlament gegen die Ministerin zu ermitteln begänne.
Eine Woche später könnte man auf den Gedanken kommen, dass ihr Rücktritt gar nicht nötig war. Denn am Montag lag der Abgeordnetenkammer ein Rechtsgutachten ihres wissenschaftlichen Dienstes vor, und am Montagabend traf die Präsidentenkonferenz der Kammer Generalstaatsanwältin Martine Solovieff. Sie riet den Abgeordneten, die Kriminalpolizei zu beauftragen, Carole Dieschbourg zu vernehmen. Die Präsidentenkonferenz stimmte dem geschlossen zu. Der Auftrag soll demnächst über eine Resolution erteilt werden. Dass Dieschbourg am Montag keine Ministerin mehr war, spielt keine Rolle. Der Umweg über die Kriminalpolizei hätte für eine Ministerin ebenso gefunden werden können wie für eine Ex-Ministerin.
Ein wenig ähnelt die ganze Geschichte der Affäre um die Immobilienprojekte Wickringen/Liwingen vor zehn Jahren. Damals ging es darum, ob LSAP-Wirtschaftsminister Jeannot Krecké zwei Unternehmern gedroht hatte, ihre Banken und Geschäftspartner gegen sie aufzubringen. Die Abgeordnetenkammer stand im Sommer 2012 vor der Frage, Krecké, der damals schon seit Monaten nicht mehr Minister war, nachträglich die Immunität zu entziehen, um Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft weitere folgen zu lassen.
Verfassungsartikel 116 über die Anklageerhebung gegenüber Regierungsmitgliedern sieht vor, dass dazu die Staatsanwaltschaft die Resultate der Vorermittlungen ans Parlament übermittelt. Dieses prüft sie, ermittelt gegebenenfalls weiter, und entscheidet am Ende, ob die Indizienlage für eine Anklageerhebung ausreicht. Falls ja, übergibt sie die Angelegenheit dem Obersten Gerichtshof. Der fällt in einer Vollversammlung sämtlicher Richter ein Urteil über den Sachverhalt selbst und legt, falls nötig, ein Strafmaß fest.
Die Regelung, die auf den Verfassungstext von 1848 zurückgeht, gilt mittlerweile als antiquiert und mit dem modernen Rechtsstaat unvereinbar. Weshalb die anstehende Verfassungsreform in einem neuen Artikel die Anklageerhebung gegenüber Regierungsmitgliedern vereinfacht und sehr klar regelt: Ermitteln darf gegen Ministerinnen und Minister nur die Staatsanwaltschaft. Das Parlament wird lediglich gefragt, wenn ein Regierungsmitglied festgenommen werden soll.
Doch die Verfassungsänderung ist noch nicht in Kraft. Das betreffende Reformkapitel wurde in erster Lesung im Januar verabschiedet. Die zweite Lesung könnte vielleicht noch vor den Sommerferien, vielleicht im Herbst nach der Rentrée stattfinden. Anschließend blieben sechs Monate Übergangszeit, um Gesetze und Verordnungen anzupassen. Anwendbar würden die neuen Regeln damit irgendwann zwischen Ende dieses und Anfang kommenden Jahres.
Solange die „antiquierten“ Vorschriften weiterbestehen, käme die Abgeordnetenkammer nicht daran vorbei, die Rolle des Staatsanwalts, vielleicht sogar des Untersuchungsrichters gegenüber Carole Dieschbourg zu spielen. Es sei denn, sie fände, die Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft gäben dazu keinen Anlass. So endete 2012 die Affäre Wickringen/Liwingen für Jeannot Krecké. Was damals durchaus für Erstaunen sorgte: Die Fraktionsvorsitzenden der Oppositionsparteien DP und Grüne, Claude Meisch und François Bausch, vollzogen innerhalb von nur zwei Tagen eine 180-Grad-Wende. Zunächst hatten sie erklärt, die Ermittlungen gegen Krecké müssten „fortgeführt“, seine Immunität nachträglich aufgehoben werden (Meisch). Die Kammer müsse „den Gerichten die Mittel geben“, um urteilen zu können (Bausch). Doch dann kam Generalstaatsanwalt Roby Biever in die Präsidentenkonferenz und erläuterte seine Auslegung von Verfassungsartikel 116. Anschließend sagte Bausch, es sei „nicht am Parlament, an einem politischen Korps, juristische Entscheidungen zu treffen“. Denn es sei „nicht neutral“. Claude Meisch schätzte, die Angelegenheit komme „leider nicht mehr zum Untersuchungsrichter“. In den Vorermittlungen sei „eigentlich nur abgefragt worden, was teilweise schon öffentlich war“ (d’Land, 20.07.2012). Ein paar Tage später nahm das Kammerplenum mit 55 von 60 Stimmen eine Resolution an, die sinngemäß erklärte, die Beweislage gegen Krecké sei zu schwach. Das Dossier wurde damit zu den Akten gelegt.
Ein Unbehagen, über die Vorermittlungen gegen Carole Dieschbourg zu befinden, und dabei nicht neutral zu sein, spielte auch in der Präsidentenkonferenz am Montag eine Rolle. Denn Dieschbourg hatte schon 2019 erklärt, sie habe sich nichts vorzuwerfen und wolle aussagen in der Gaardenhais-
chen-Affäre. Was wegen ihrer Immunität bisher nicht möglich war. Wie die Fraktionspräsidenten das anschließend darstellten, machte die Generalstaatsanwältin sie darauf aufmerksam, dass es der Ex-Umweltministerin zustehe, von einer neutralen Instanz wie der Kriminalpolizei angehört zu werden. Anderenfalls könnte sie dagegen vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof klagen. Diesem Argument folgten die Fraktionsvorsitzenden anscheinend schnell.
Ganz sauber sieht es natürlich nicht aus, wenn eine der Exekutive unterstellte Beamtin (die Generalstaatsanwältin) Spitzenvertretern der Legislative bei der Entscheidung darüber behilflich ist, wie sie ihre Vollmachten laut Verfassung wahrnehmen sollten. Doch genau genommen, ist Verfassungsartikel 116 nur eine Übergangsbestimmung, denn eigentlich soll laut Verfassungsartikel 82 ein Gesetz regeln, wann und wie das Parlament ein Regierungsmitglied anklagen kann: „Une loi déterminera les cas de responsabilités, les peines à infliger et le mode de procéder, soit sur l’accusation admise par la Chambre, soit sur la poursuite des parties lésées.“ Theoretisch hätte nach der Affäre Wickringen/Liwingen Gelegenheit sein können, ein solches Gesetz voranzubringen. Doch damals waren die Abgeordneten im guten Glauben, bald schon über die Verfassungsrevision abzustimmen. Bereits der ursprüngliche Reformvorschlag, der drei Jahre zuvor deponiert worden war, sah vor, Schluss zu machen mit der Rolle des Parlaments als Ankläger von Ministern.