Die kleine Zeitzeugin

Keine hat mehr Lust auf Gaza

d'Lëtzebuerger Land du 18.10.2024

Das schrieb ich im Sommer, das schrieb ich im Sommer so vor mich hin, es ist Sommer, schrieb ich, sonst nichts, nichts ist besser als nichts. Detoxen nannte man das früher. Allenfalls noch Zehen im Sand, wenn möglich auch den Kopf, bitte, an einem Strand, einem möglichst altmodischen, ohne Schleim und mit einem Horizont wie auf einer Kinderzeichnung. Ohne Winkende auf Nussschalen, die sich nähern.

Keiner hat mehr Lust auf Klima. Keiner hat mehr Lust auf Ukraine, was ist das, wo ist das? Ach das. Ach die. Ach dort. Keiner hat mehr Lust auf Gaza. Nur fort sein, flugschamlos fort. Die Gegenwart wird gecancelled, ohne sie ist es viel besser. Aber dann sind wir wieder da und die Talk Shows auch und Gaza-Ukraine-Klima auch, bisschen hat man sie ja schon vermisst.

Gaza anfangs da flatterten die Hände morgens zum Handy nach dem Aufwachen was ist in Gaza was ist nur in Gaza wie geht es Gaza lebt es noch OMG schon wieder die länglichen Pakete überall und wie ein Schlag in den Magen der wehtut jeden Tag mehr neinnein das geht so nicht weiter mit Gaza und mir und mir und Gaza das war’s ich mach Schluss es macht mich kaputt es gibt noch was anderes als Gaza zum Beispiel mich also das war’s. Das sehen die anderen auch so, die sehen es auch nicht mehr so, sehen nicht mehr so hin, war ja auch EM und Olympia die Ouverture was haben die da aufgeführt bei der Ouverture das sind die Themen man darf nicht so fixiert sein. Das ist nicht gesund. Gaza ist nicht gesund, ich werde es nur noch mit Abstand genießen, aha, ja, Gaza, hundert Tote, die Schule, die Klinik, ach so, ach ja, jajaja Gaza ein Wahnsinn, ich bin dann mal weg. Dieses Gaza ist ungenießbar.

Und dann, nach diesem Sommer, Herr, der Sommer er war groß beten wir auf Oma-FB, ist Gaza immer noch da, man wundert sich, dass es noch da ist, es ist ja gar nicht so groß, und die Menschen laufen oder humpeln oder schieben andere Menschen die nicht mehr laufen und humpeln können von A nach B bis nach Z und wieder zurück wie in einem altmodischen Videospiel was nicht mehr viele interessiert. In den verrauchten Ruinen wie in Endzeitfilmen stehen Menschen herumstehen wie Statist/innen. In einer Kloake auf einem Traumstrand stehen Zelte, ein paar wackere Expert/innen schlagen Alarm. Ein Friedhof wird zerstört, aber die waren ja schon tot.

Gaza ist chronisch, es geht einfach so weiter wie das Leben eben so weiter geht, und die Toten werden täglich gezählt wobei es zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Es gibt die unverhältnismäßigen Toten und die verhältnismäßigen Toten, je nach Auslegung, aber jeder Tote ist einer zu viel, einigt man sich dann friedfertig. Die Berichtbestattung geht weiter, sie hat etwas Routiniertes bekommen, sie rutscht in den Nachrichten nach hinten, die Kriege kämpfen gegeneinander, dann kommt noch einer dazu, ein neues Gaza, heißt es schon verheißungsvoll in den Medien. Aufmerksamkeit ist die Währung.

Auf den nicht-deutschsprachigen Sendern werden Videos gezeigt, vor deren disturbing content wir gewarnt werden, wir sind ja dermaßen schnell verstört. Die UNO ist empört und entsetzt und wird nicht ernst genommen wie Eltern, die die Hände über dem Kopf zusammenschlagen aber eh nichts tun. In den Talk Shows wird gestritten ob es sich um einen Völkermord handelt. Als gäbe es Völker. Als würde Menschenmord nicht reichen, als würde jeder Einzelne nicht reichen, als würden die zahllosen Einzelnen nicht reichen. Aber auch der Begriff Mord ist schwierig, lasse ich mich belehren, weil er Vorsätzlichkeit beinhaltet.

Und weil all das so schwierig und komplex ist, und man nicht mit den Falschen schreien möchte, weil man will, dass auch das Land Israel, das den wunderbaren Kibbuz erfunden hat, die bestmögliche aller Lebensformen, eine Heimat ist all denen, die jetzt dort leben, schweigen so viele. Ab und zu posten wir eine Kerze und weinende Augen. Je suis Gaza, nein, das traut sich keine, das will wirklich keiner sein, der wievielte Kreis der Hölle? Und nicht mehr in Mode ist es außerdem, es ist so anno Charlie.

Michèle Thoma
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