Eine ungewöhnliche Sendung schaffte es vor zwei Wochen unter die globalen Top 10 der „meistgesehenen Serien“ der Internet Movie Database (IMDb): Über 60 Millionen Zuschauer/innen schauen neuerdings Sedat-Peker-YouTube-Clips. Außer in der Türkei kennt Peker niemand. Aber dort ist Sedat Peker, der Protagonist der Clips, als erbarmungsloser Mafia-Boss mit undurchsichtigen Beziehungen zu Politik und Staat sehr bekannt.
Peker wuchs in den 1970-er Jahren in München auf. Später schloss er sich in der Türkei den faschistischen Grauen Wölfen an. Heute will er davon nichts wissen und besteht darauf, politisch unabhängig zu sein. In seinen Videos erklärt er vehement ein „fedai“ zu sein, also ein „patriotischer Kämpfer“. Peker ist davon überzeugt, dass Gleichgesinnte die Einheit der türkischen Staaten weltweit herstellen und den „Turan“, also den großtürkischen Staat gründen werden. Pekers Finanzmodell lautet Erpressung. Damit hat er ein Vermögen gemacht. Vor knapp zwei Jahren flüchtete er ins Ausland.
Nun packt er aus. In seinen Videos gibt der Kriminelle mehrere schwere Straftaten zu, und bekennt freimütig, sie im Auftrag begangen zu haben. Zum Beispiel im Auftrag eines Abgeordneten von Erdogans Partei AKP, für den er die Redaktionsbüros der Tageszeitung Hürriyet überfallen ließ.
Peker ist nämlich sauer. Deshalb malträtiert er nun keine Staatsfeinde im Auftrag der Politik, sondern attackiert seine ehemaligen Komplizen und Auftraggeber in der Politik. „Ihr werdet von einer Kamera und einem Stativ besiegt“,droht er sichtlich amüsiert seinen ehemaligen Geschäftspartnern. In seinen professionell inszenierten, knapp einstündigen Episoden erklärt er nun die Hintergründe mancher nicht aufgeklärter Morde und Überfälle. Peker behauptet dabei, der türkische Innenminister Süleyman Soylu führe gegen ihn mit fabrizierten Beweisen eine Operation durch. Oder dass hochrangige Politiker um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in großem Stil Drogenhandel betreiben.
Peker beschränkt sich auf nur einige Fälle, doch die haben das Zeug zur Staatskrise. So soll der ehemalige Innenminister Mehmet Agar, den Peker den „Kopf des tiefen Staates“ nennt, ihn vor einigen Jahren gebeten haben, ihm einen vertrauenswürdigen und professionellen Attentäter zur Verfügung zu stellen, um einen „Verräter zu töten, der Zypern den Griechen verkaufen“ wolle. Gemeint ist der Journalist Kutlu Adali, der 1996 im türkisch besetzten Teil Nikosias auf offener Straße erschossen worden war. Peker bekannte, er habe für den Job seinen eigenen Bruder zusammen mit einem Geheimdienstler nach Zypern geschickt, doch das Attentat habe nie stattgefunden, weil die lokalen Behörden unfähig gewesen seien, die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Später habe ihm der Geheimdienstler gesagt, man habe das Problem anderweitig gelöst.
In den 1990-er Jahren, so berichtet Peker seinem gebannt lauschenden türkischem Publikum, seien solche Operationen gang und gäbe gewesen. Er sei immer wieder mit von der Partie gewesen, habe viel erlebt und sei Zeuge etlicher Taten und Verbrechen geworden. In Polizeistationen und Gefängnissen habe er mit eigenen Augen gesehen, wie weibliche Familienangehörigen von Verhafteten misshandelt wurden, um den Widerstand der Häftlinge zu brechen. „Mehmet Agars Polizei-Methoden“ nennt Peker das höhnisch. Aus Rache versuchten Agar und der aktuelle Innenminister Süleyman Soylu ihn nun selber mittels seiner Familie einzuschüchtern.
Agar war in den 1990-er Jahren zunächst als Chef der Anti-Terror-Polizei, dann als Polizeichef und schließlich als Innenminister tätig. Während seiner Amtszeit gab es massive Foltervorwürfe gegen die Polizei. Mehrere kurdische Unternehmer, denen vorgeworfen worden war die kurdische Guerilla zu unterstützen, wurden tot am Straßenrand gefunden. Später, 2011, wurde Agar wegen der „Gründung einer bewaffneten Bande“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, doch wurde er schnell wieder auf freiem Fuß gesetzt.
Gegen ihn und andere richtet sich Pekers You-Tube-Rachefeldzug. Schwere Vorwürfe erhebt er auch gegen die „Pelikan-Gruppe“ um Berat Albayrak, dem Schwiegersohn Erdogans und ehemaligen Wirtschaftsminister. Diese Gruppe von jungen Islamisten, so der Mafiosi, hätten Erdogan isoliert und hinderten ihn daran, die Realitäten des Landes zu sehen. Dabei füllten sie sich die Taschen und engagierten sich in krummen Geschäften.
Peker wirft dem ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yildirim und seinem Sohn Erkam Yildirim vor, Kokain aus Lateinamerika in die Türkei zu schmuggeln. Dafür sei Erkam Yildirim Anfang des Jahres nach Venezuela gereist – nicht wie von Yildirim behauptet, um Covid-19-Tests zu kaufen –, sondern um das Geschäft zu organisieren.
Peker, der vor einigen Jahren in einer medienwirksamen Aktion den islamistischen Gruppen in Syrien mehrere Tausend SUVs schenkte, bekannte nun, dass dabei ein türkisches Unternehmen im Auftrag des Staates Waffen an die Aufständischen geschmuggelt habe.
Keine Behauptung Pekers erscheint zu wirr, sondern vielen Türken als plausibel. Er nennt Namen, Zeiten, erklärt Zusammenhänge, die alle einfach zu verifizieren wären. Doch die türkische Justiz sperrt sich. Im Parlament blockierten Abgeordnete der AKP und der Grauen Wölfen den Untersuchungsantrag der Opposition. Alle, die Peker in seinen Video-Hits belastet, bestreiten die Vorwürfe natürlich und Sicherheitsbehörden insinuieren, dass Akteure der organisierten Kriminalität oft im Rahmen eines asymmetrischen Krieges instrumentalisiert würden.
Erdogan schwieg zunächst, dann behauptete er, Pekers Angriffe seien von ausländischen Geheimdiensten orchestriert.
Viele fragen sich, warum der Mafia-Boss gerade jetzt auspackt. Die Antwort könnte lauten, dass Peker offenbar mit Innenminister Soylu seine Rückkehr ins Land verhandelte, dabei aber reingelegt wurde. Daraufhin, sagt Peker, habe er seine Vernunft in den Urlaub geschickt. Peker beklagt, dass die Polizei in seiner Wohnung eine Razzia inszeniert habe, um ihn als Drogendealer aussehen zu lassen. Dass Polizisten bei der Hausdurchsuchung ihre Waffen auf seine Frau und Kinder gerichtet hätten, das gehe zu weit. Das sei inakzeptabel und verletze seine Ehre.
„Du warst mein Ticket zurück, hast mich aber betrogen“, ätzt Peker immer wieder in die Kamera. Indirekt scheint er so Erdogan anzusprechen, den er zutiefst verehre, und auf dessen Unterstützung er zu hoffen scheint.