ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Revival Tour

d'Lëtzebuerger Land du 30.04.2021

Am morgigen Samstag organisiert der OGBL in Esch-Alzette einen Mai-Umzug. Die Gewerkschafter marschieren vom Brillplatz durch die Alzette-Straße. Vor dem Rathaus spricht Präsidentin Nora Back. Das wäre für einen 1. Mai nicht weiter überraschend. Wäre es nicht der erste Mai-Umzug des OGBL seit
15 Jahren.

Der Internationale Arbeiter-Kongress in Paris beschloss am 20. Juli 1889, „daß gleichzeitig in allen Ländern und in allen Städten […] die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten (Behörden) die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen und die übrigen Beschlüsse des internationalen Congresses von Paris zur Ausführung zu bringen“ (Protokoll des Internationalen Arbeiter-Congresses, 1890, S. 123).

Im gleichen Jahr wurde der Luxemburger Centrale Arbeiter-Verein gegründet. Am
5. Mai 1890 berichtete L’Indépendance luxembourgeoise: „Environ 200 ouvriers s’étaient réunis hier à l’hôtel Medinger. Il y a été beaucoup parlé du suffrage universel […]. Aucun incident n’est venu troubler la réunion ; il n’y a été parlé ni de grèves, ni salaires, ni d’heures de travail.“

„So lange Ihr nur ein Stück schlechte Wurst habt und ein Glas Bier, merkt Ihr das gar nicht und wißt gar nicht, daß Euch Etwas fehlt!“, hatte Ferdinand Lassalle 1863 in Frankfurt geschimpft. „Das kommt aber von Eurer verdammten Bedürfnißlosigkeit!“ (Arbeiterlesebuch, 1863, S. 31). Der 1. Mai wurde zum gesetzlichen Feiertag. Statt Wurst und Bier hätte Lassalle heute Opel und Ibiza gesagt.

Nach mehr als einem Jahrhundert schaffte der OGBL 2006 seine Mai-Umzüge ab. In jenem Jahr hatte sich die Gewerkschaftsführung kurz vor dem 1. Mai einer weiteren Index-Manipulation ergeben. Die Unternehmer setzten auf Klassenkampf, die LSAP-Minister ließen die Kameraden im Stich. Im Nationalvorstand waren nur 61 Prozent der Delegierten einverstanden. Die Tripartite hatte den OGBL in eine Sackgasse geführt. Eine Ersatzstrategie hatte er nicht.

Der OGBL ersetzt seither die Mai-Kundgebungen durch Familienfeste mit Unterhaltungsprogramm. Am Vorabend der Familienfeste finden Versammlungen für Gewerkschaftsfunktionäre statt. Dort können die Vorsitzenden ihre unter Embargo an die Presse versandten Ansprachen verlesen. Die LSAP-Politiker, die bei den Umzügen in der ersten Reihe gestanden hatten, dürfen nun sitzen.

Der OGBL wollte am 1. Mai nicht mehr auf die Straße gehen. Nicht die Tripartite sondern der „Kampftag“ sei „zu einem gewerkschaftlichen Ritual“ geworden. So Jean-Claude Reding 2006 im Aktuell (Nr. 4, S. 20). Nach dem „Gesundschrumpfen“ der Schwerindustrie und dem Lob der Dienstleistungsgesellschaft war er der erste LAV- und OGBL-Präsident, der kein Arbeiter mehr war. Die Gewerkschaft wollte am 1. Mai nicht mehr die Muskeln der Stahlarbeiter spielen lassen. Sie wollte Frauen, Angestellte und Beamte gewinnen.

Die gewerkschaftliche Solidarität wird zu einer Dienstleistung für zahlende Mitglieder. Wie der Automobilclub im Straßenverkehr eilt die Gewerkschaft als Pannendienst im Berufsleben zu Hilfe. Die Hilfesuchenden stehen Schlange. Der Verkehr und die Produktion rollen weiter.

Am Ende überließ der OGBL die Mai-Umzüge der FNCTTFEL und dem LCGB. Die christliche Gewerkschaft hatte sie jahrzehntelang als gottlose Wallfahrten verteufelt. Vergangenes Jahr musste der OGBL sein Familienfest wegen der Ansteckungsgefahr absagen. Dieses Jahr hätte das Covid-Gesetz die Teilnehmerzahl auf hundert begrenzt. Das entspräche den Mai-Feiern des NGL-Snep.

Durch die Alzette-Straße zu marschieren, fällt nicht unter das Covid-Gesetz, sondern unter die Verfassung. Sie garantiert in Artikel 25 die Versammlungsfreiheit. So treiben die Viren den 1. Mai wieder auf die Straße. Die Mai-Kundgebung des LCGB findet digital auf Facebook statt. Anormale Umstände bringen für kurze Zeit Normalität zurück.

Romain Hilgert
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