Wenig Menschen finden den Weg aus den Beschäftigungsinitiativen zurück auf den ersten Arbeitsmarkt. Ein Besuch im Süden des Landes

Den Sprung schaffen

Im Escher Geméisguart werden Kohlrabi gepflanzt
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 17.02.2023

Antonio steht auf den Feldern des Escher Geméisguart und blinzelt in die Sonne. Er nimmt eine große Schaufel, sticht sie in die mit Kompost befüllte Schubkarre und legt sie nieder. Der Kompost muss auf dem gesamten Feld verteilt werden, um den Boden aufzubereiten, denn die Bohnen-Jungpflanzen fürs Frühjahr werden bald hier gepflanzt. Antonio ist 54 und gebürtiger Kapverdier, er arbeitet seit dreizehn Jahren in verschiedenen Beschäftigungsinitiativen, momentan bei CIGL Esch im Gemüsegarten. Davor war er Jahrzehnte lang auf dem Bau tätig. Sambou steht neben ihm und zieht eine faulende Möhre aus den Haken des Rechens. Der 63-jährige Eritreer ist zum dritten Mal bei CIGL Esch angestellt. Das Team wirkt gutgelaunt, immerhin ist kein Wölkchen am Himmel zu sehen – allerdings urteilt David, der die Gruppe diese Woche als Teamchef begleitet, dass die Kompostschicht dünner und gleichmäßiger verteilt werden muss.

Die Ursprungsidee der Beschäftigungsinitiativen wie CIGL liegt darin, schwer vermittelbaren Menschen eine Beschäftigung zu bieten und damit einen Weg – oder zumindest eine Perspektive ­– aus der Langzeitarbeitslosigkeit. Dabei rangieren die angebotenen Arbeiten von Kleinreparaturen über Gärtner- und Bauarbeiten, bis hin zur Möbelrestauration und dem Verkauf in den hauseigenen Secondhand-Läden. Der Escher Geméisguart, der seit 2015 existiert und ausschließlich biologisches Obst und Gemüse anbaut, stellt derzeit 18 Menschen mit sehr heterogenen Profilen an. Sie alle haben die Prekarität gemein, denn die befristeten Verträge können nur bis maximal 24 Monate verlängert werden, dann ist Schluss. Zwei Jahre müssen vergehen, bis man wieder bei der gleichen Initiative Anstellung finden kann. Hauptziel ist neben einer psychosozialen Stabilisierung auch die Kompetenzentwicklung, die es den Menschen erlaubt, wieder eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Die Initiative als Sprungbett, quasi. Etwa ein Drittel der dort Beschäftigten schafft diesen Sprung, die Zahl schwankt in den letzten Jahren nur leicht, und ob sie als Erfolg verbucht werden kann, wird politisch debattiert. Den anderen zwei Drittel droht jedenfalls die erneute Arbeitslosigkeit – oder eine andere Initiative.

Die staatlich finanzierten Strukturen CIGL und CIGR sind nach einer Reihe vernichtenden Audits aus dem Objectif Plein Emploi hervorgegangen und von den Gewerkschaften entwickelt worden. Inzwischen haben sie sich vom OGBL losgelöst und funktionieren eigenständig – auch ProActif und Forum pour l‘emploi haben nichts mehr mit dem LCGB zu tun. Dabei arbeiten die Initiativen eng mit den Gemeinden zusammen, in denen sie sich befinden, und werden von diesen finanziell mitgetragen. Im Gegenzug verrichten die Initiativen „für die Allgemeinheit nützliche Tätigkeiten“. Die Hauptfinanzierung übernimmt jedoch das Arbeitsministerium und trägt die Lohnkosten und Sozialabgaben. Zu Zeiten des Objectif Plein Emploi wurden die Initiativen zum Teil noch als geschützte Alternative zum kapitalistischen System angepriesen, deren Ziel es gar nicht mehr sei, die Leute auf den ersten Markt zu reintegrieren. Heute versichern Koordinatoren ebenso wie das Arbeitsministerium, dass die Zielsetzung darin bestehe, den berühmten Sprung zu schaffen. Da die Realität zahlentechnisch eine andere ist, kann man die Effizienz der Maßnahme und ihre eigentliche Rolle jedoch zumindest in Frage stellen. Dass sie ein „Parkplatz“ für Menschen in einem gewissen Alter darstellen, die in der Produktionsgesellschaft nicht mehr zu gebrauchen sind, diese Idee wehrt das Arbeitsministerium ab. Trotzdem sei man sich bewusst, dass die Beschäftigungsinitiativen auch eine Art Lücke für Personen füllen, die in ein paar Jahren in Rente gehen und in der leistungsorientierten Privatwirtschaft kaum mehr Fuß fassen können, heißt es aus dem Ministerium. Und dass zumindest diese Leute einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen (und aus der Arbeitslosenstatistik gezogen worden sind).

In einem der Treibhäuser neben dem Aufenthaltsraum wachsen Shiitake- und Austernpilze, in einem abgedunkelten Raum sprießt Chicorée in Kisten. Die Ernte des Geméisguart wird das ganze Jahr über für Gemüsekörbe und Küchen der Escher Maison Relais verwertet. Der Garten scheint mit seiner umweltbewussten Kreislaufwirtschaft, den pädagogischen Angeboten und dem biologischen Anspruch eine Art Vorzeigeprojekt des CIGL zu sein, der Stolz ist während der Führung durch den Garten spürbar. Nachdem der Kompost verteilt und die zarten Kohlrabi-Setzlinge gepflanzt wurden, ist Zeit für die Mittagspause. Die Mitarbeiter haben in dem aus der roten Escher Erde selbst gebauten Haus neben den Treibhäusern Platz genommen, um die von zwei Mitarbeiterinnen gekochte Lauchsuppe zu essen. Sie verdienen für die verschiedenen Aufgaben, die im Gartenanbau anfallen, den unqualifizierten Mindestlohn, der derzeit bei 2447,07 Euro brutto liegt – und mit dem es immer schwieriger wird, über die Runden zu kommen. Zwar sind sie wie alle Arbeitnehmer vom allgemeinen Arbeitsrecht geschützt. Einen Kollektivvertrag und die damit einhergehende gewerkschaftliche Repräsentanz gibt es für die Angestellten jedoch nicht – eine Ironie, da die Initiativen historisch den Gewerkschaften entstammen. „Eine richtige Lobby haben diese Menschen nicht“, sagt Nicolas van de Walle, Koordinator des CIGL Esch. Seitens des OGBL gebe es durchaus Verhandlungswillen, sagt Frédéric Krier, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands beim OGBL. Zustande gekommen ist bisher nichts.

Eine Mitarbeiterin des CIGL Esch verlässt das Team heute, sie hat einen Job gefunden. Matthieu Tassin, der joviale Chef des Geméisguart-Teams, freut sich für sie. Er bedauert jedoch, dass er vor allem den Älteren im Team keine längeren Verträge anbieten kann. „Hier wäre eine Ausnahmeregelung von Vorteil, sodass sie bis zu fünf Jahre hier bleiben könnten.“ Sie erfuhren während der zwei Jahren eine Wertschätzung, die beim Rückfall in die Arbeitslosigkeit wieder verloren ginge. Das sieht das Arbeitsrecht jedoch nicht vor, befristete Verträge dürfen laut Gemeinschaftsrecht nicht länger als 24 Monate dauern. „Es würde politisch mehr Sinn ergeben, wenn ein bisschen mehr Geld für eine Beschäftigungsmaßnahme ausgegeben würde, anstatt des Arbeitslosengeldes“, entgegnet der Präsident des CIGL-Esch François Remackel. Immerhin würde dann gearbeitet.

Neben den herkömmlichen CDD gibt es für schwer vermittelbare Arbeitssuchende auch die sogenannten EMI-Verträge, die emplois d’insertion. Sie wurden 2017 vom damaligen Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) eingeführt und sind unbefristeter Natur. Für sie gilt ein Mindestalter von 30 Jahren, der Beschäftigungsfonds zahlt die Lohnkosten für jüngere Angestellte eines solchen Vertrages drei Jahre lang gestaffelt zurück, für über 50-Jährige vollständig bis zum Renteneintritt. Gary Diderich (déi Lénk) plädiert für längerfristige Modelle dieser Art, und dafür, die Zahl der möglichen Anstellungen in den Initiativen auf eins zu begrenzen, damit sie nicht zum „Karussell“ werden.

Wie jeher scheint die Einschätzung der Natur des Menschen hier politisch wegweisend, wie eine Solidarwirtschaft aussehen könnte. Gibt man Personen zu viel, fühlen sie sich womöglich dazu bewegt, es sich gemütlich zu machen und sich nicht mehr anzustrengen, grummeln die Marktorientierten, und schieben den Vorwurf der unlauteren Konkurrenz gegenüber dem herkömmlichen Handwerk hinterher. Teilt man ein optimistischeres Menschenbild, herrscht die Auffassung vor, dass eigentlich alle Menschen, die einigermaßen gesund und fähig sind, in irgendeiner Weise an der Gesellschaft teilnehmen wollen; und der Staat auch jenen mit sozialen und gesundheitlichen Problemen diese Erfahrung geschützt ermöglichen sollte. Die Frage, wie vulnerable Menschen, die weit entfernt vom Arbeitsmarkt sind, sich langfristig beschäftigen, ist durch die Initiativen nur auf Zeit beantwortet.

Zahlen der Adem nach sind derzeit 15 760 Menschen als arbeitsuchend gemeldet (Stand Dezember 2022), davon 4 422 seit mehr als zwölf Monaten. Von letzteren sind fast zwei Drittel mehr als 45 Jahre alt. In den Beschäftigungsinitiativen finden momentan rund 2 000 Menschen Beschäftigung, eine Zahl, die sich seit 2006 mehr als verdreifacht hat. Die Adem hat die unterste Altersgrenze für eine Anstellung in einer Initiative auf 25 Jahre festgelegt. Den Großteil machen aber auch hier Personen über 45 ohne höheren Schulabschluss aus. Aber eben nicht nur.

Mit kreisenden Bewegungen lässt Ipek die Schleifmaschine über die Kommode gleiten, die weiße Farbe ist fast vollständig abgetragen. Sie steht mit rotem Hörschutz in einem Atelier des CIGL Differdingen. Eine Handvoll Arbeiter/innen restaurieren hier gespendete Möbel, um sie im hauseigenen Okkasiounsbuttek anbieten zu können. „Ich habe hier eine neue Art gelernt, Kunst zu machen“, sagt die zierliche Frau mit Käppi und kristallblauen Augen. Sie ist fast 50 Jahre alt, stammt ursprünglich aus der Türkei und lebt seit 2008 mit ihrer Familie in Luxemburg. Obwohl sie ausgebildete Zahnärztin ist, wurde ihr türkisches Diplom hier nicht anerkannt. Sie freue sich, Neues bei CIGL zu lernen, doch in ihrem Herzen bleibe sie Zahnärztin, erzählt sie in fließendem Französisch. Trauer huscht über ihre Augen. Wenn ihr Vertrag beendet ist, wolle sie sich neu orientieren, am liebsten in Richtung pädagogische Fachkraft für Krippen.

Mittlerweile stellt Ipek mit ihrem Abschluss eine Ausnahme dar. „Die Profile der Menschen, die zu uns kommen, haben sich in den letzten zehn Jahren verändert“, sagt Kathy Nachtsheim, Koordinatorin des CIGL Differdingen. Sie seien insgesamt schwächer geworden, und die sozialen Probleme wie Sucht und Wohnungsnot hätten sich multipliziert. Die Anforderung, eine der Landessprachen zu beherrschen, wurde 2016 aus den Konventionen gestrichen, um mehr Inklusion zu ermöglichen, was zu größeren Kommunikationsschwierigkeiten innerhalb der Initiativen führt. Ein neues, realistisches „professionelles Projekt“ soll in der Zeit dort entstehen, weshalb die Angestellten individuelle Weiterbildungen vermittelt bekommen, vom Umgang mit dem Freischneider hin zu digitalen Kompetenzen.

Am Tisch nebenan bekommt ein Holzrahmen eine neue Lasur verpasst. Maria aus São Tomé ist eigentlich Küchenhilfe und Mutter von vier erwachsenen Kindern. Sie hat in Kantinen gearbeitet, findet aber nirgends mehr eine unbefristete Anstellung. Die 57-Jährige ist seit knapp einem Jahr in Differdingen angestellt und sagt vergnügt, sie sei im Gegensatz zu vielen jungen Menschen hochmotiviert. Nichtstun langweile sei, ihre Knochen würden unbeweglich dadurch. Hat sie denn gar keine Sorgen? Die gebe sie an Gott ab, antwortet sie fröhlich und wäscht den Rahmen mit Wasser ab.

Einige Hundert Meter hinter dem CIGL-Gelände entsteht ein neuer Spielplatz. Fünf Männer, begleitet von einem Teamchef, bauen gerade eine Steinmauer, sie sind zwischen 43 und 60 Jahre alt und sprechen Portugiesisch miteinander. Einer zeigt auf sein Bein, das nach 22 Jahren auf dem Bau beeinträchtigt ist. Ein anderer wirkt in sich zurückgezogen. Kathy Nachtsheim steht ein paar Meter von ihnen entfernt und sagt: „Jeder weiß, wie schlimm es ist, nicht mehr gebraucht zu werden“.

Sarah Pepin
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