Deutschland

Die Welt hat sich verändert

d'Lëtzebuerger Land vom 08.02.2019

Die Gorch Fock war einst der Stolz der deutschen Marine. Das Segelschulschiff der deutschen Bundeswehr schipperte über die sieben Weltmeere, damit Marine-Offiziere das Navigieren ohne High-Tech lernten, Offiziersanwärter in der Takelage hautnah die Bedeutung von Kameradschaft, von Aufeinander-Angewiesen-Sein und Sich-Aufeinander-Verlassen-Können am eigenen Leib erfuhren. Dann führten Fehler und Pannen im Dienst in den Jahren 2008 und 2010 zum Tod zweier Offiziersanwärterinnen. Schließlich machten Gerüchte von einer Meuterei und Berichte von entwürdigenden Ritualen auf dem Segler die Runde. Spätesten dann kam das Schiff auch politisch in schwere See. Seit drei Jahren liegt die Gorch Fock nun in einem Dock in Bremerhaven und wartet darauf, wieder in See stechen zu können. Zuvor soll sie saniert werden, was einem Neuanfang für Schiff und Marine gleichkommt. Rund zehn Millionen Euro waren für die Generalüberholung des 60 Jahre alten Seglers zunächst eingeplant. Jetzt sollen es 135 Millionen werden. Das brachte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen in Erklärungsnot, vor allen Dingen wegen ihrer Amtsführung – und ihr größeres Vertrauen in Beraterfirmen denn in die eigene Truppe.

Doch nun spielt ihr die große Weltpolitik die Argumente in die Hände. Die Armee wird gebraucht. Nachdem zunächst die Vereinigten Staaten den INF-Vertrag mit Russland aussetzten und schließlich auch Russland sich von der Abrüstungsvereinbarung distanzierte, stolpert Deutschland – wie auch das übrige Europa – in eine Debatte über die atomare Aufrüstung, die längst überwunden geglaubt wurde, – und die eigene Verteidigung. Und: Sie trifft alle unvorbereitet. Von der Leyen nutzte einen Termin Anfang dieser Woche in Litauen dazu, um ihre Position vage zu fassen. Sie war ins Baltikum gereist, um dem Kommandowechsel der dort stationierten Nato-Kampftruppe beizuwohnen. Auch Deutschland stellt ein Kontingent Soldatinnen und Soldaten dieser Truppe. Ein doch eher symbolischer Beitrag zum Schutz der kleinen Bündnispartner. „Wir antworten auf Russlands aggressive Politik“, sagt die Bundesverteidigungsministerin. „Unser Engagement hier ist eine unserer Prioritäten.“ Es werde so lange dauern wie nötig.

Die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland sind auf einem neuen Höhepunkt angelangt, der an das Säbelrasseln zu Zeiten des Kalten Krieges erinnert. Es geht jetzt nicht mehr darum, ob die Stationierung von einigen hundert Soldaten und ein paar Dutzend Panzern an der Nordostflanke der Nato vertretbar ist. Es hat eine ganz andere Rüstungsdebatte begonnen, die weitaus weitreichender und weitaus heikler ist. Es geht darum, ob am Ende in Europa wieder Raketen mit atomaren Sprengköpfen aufgestellt werden sollen.

In Deutschland dürfte die Diskussion kontrovers und auch emotional geführt werden – aus historischen Gründen. Schließlich verlief hier bis vor 30 Jahren die Frontlinie des Kalten Krieges mitten durch das damals geteilte Land. Im damaligen Westdeutschland gingen Anfang der 1980-er-Jahre Hunderttausende gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen Pershing II auf die Straße. Es gab die größten Demonstrationen der Nachkriegszeit. Nach der Wiedervereinigung und dem Abzug des größten Teils der Atomwaffen aus Deutschland, glaubte man sich des Themas entledigt. An die zwanzig Atombomben, die die US-Amerikaner auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel zurückließen, erinnerte sich kaum noch jemand.

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) bezog schon im Dezember letzten Jahres Stellung, lange bevor der INF-Vertrag zur Disposition stand: „Eine Stationierung neuer Mittelstreckenraketen wird in Deutschland auf breiten Widerstand stoßen.“ Beim Koalitionspartner CDU sorgte dies für Unmut. Johann David Wadephul, Vizefraktionsvorsitzender im Bundestag, nannte die Festlegung von Maas als „grundlegend falsch“. Und weiter: „Das untergräbt die Geschlossenheit des Bündnisses und schwächt damit die Verhandlungsposition gegenüber Russland.“ Es dürfe keinen „deutschen Sonderweg“ geben. Grüne und Linke verlangen hingegen den Abzug aller in Deutschland verbliebenen Atombomben und den Beitritt des Landes zu dem von mehr als zwei Dritteln der UN-Mitgliedsstaaten beschlossenen Verbot aller Nuklearwaffen. Die Bundesregierung lehnt dies ab – wie alle anderen Nato-Staaten bisher auch. Aus Berlins Sicht macht ein Verbot nur dann Sinn, wenn vor allem die Atommächte sich daran halten. Doch kein einziges dieser Länder ist dem Verbotsvertrag beigetreten.

Die Friedensbewegung könnte jedenfalls durch die Debatte über den INF-Vertrag eine Renaissance erleben. In Büchel fanden sich zu Protestaktionen in den vergangenen Jahren allenfalls ein paar Dutzend Demonstranten ein. Das könnte sich ändern. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat bereits indirekt dazu aufgerufen, gegen Aufrüstungsbestrebungen auf die Straße zu gehen: „Ein neues Wettrüsten muss unbedingt verhindert werden. Wahrscheinlich brauchen wir eine neue Friedensbewegung.“ Das Verständnis der Verbündeten im Baltikum und in Polen für die deutsche Diskussion dürfte sehr begrenzt sein. Im Kalingrader Gebiet haben die Russen Raketen stationiert, die jedes Ziel in dem Baltenstaat erreichen können. Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite ließ sich während des Besuchs von der Leyens trotzdem nicht dazu hinreißen, mit einer Stationierung neuer Mittelstreckenraketen der USA in ihrem Land zu sympathisieren. „Ich glaube, wir müssen jetzt neue Lösungen finden“, sagte sie auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit von der Leyen auf eine entsprechende Frage. „Die Welt hat sich verändert.“

Martin Theobald
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