Deutschland

Eine Frage der Beweglichkeit

d'Lëtzebuerger Land vom 01.02.2019

Es war im Februar 1974. Drei Monate nach dem Höhepunkt der Ölkrise in Westeuropa, die den Westdeutschen vier „autofreie Sonntage“ brachte, startete der Allgemeine Deutsche Automobil-Club (ADAC) eine Kampagne mit dem Titel: „Freie Bürger fordern freie Fahrt!“. In erster Linie richtete sich die Aktion gegen den im November 1973 gestarteten viermonatigen Tempo-100-Großversuch auf den Autobahnen. Hintergrund der temporären Geschwindigkeitsbeschränkung war weniger der Energieverbrauch, als die Unfallzahlen im damaligen Westdeutschland. Hier zählte die Statistik für das Jahr 1974 mehr als 19 000 Verkehrstote auf 62 Millionen Einwohner. Im Vergleich dazu waren es 2017 3180 Tote im Straßenverkehr bei 82 Millionen Einwohner. Das ADAC-Magazin Motorwelt kündigte damals an, dass der Club alles unternehmen werde, um das „unrealistische Kriechtempo“ zu verhindern. Da sich jedoch viele Mitglieder des Automobilvereins nicht mit dem Slogan anfreunden konnten und die Pro-Auto-Politik des ADAC nicht teilten, hatte die Kampagnen zunächst eine Austrittswelle zur Folge. Politisch wirkte die Aktion aufgrund der unerwarteten Polarisierung bewusstseinsbildend und stärkte auch die Umweltbewegung wie das Umweltbewusstsein in Deutschland. Doch die Kampagne konnte sich durchsetzen: Statt eines generellen Tempolimits von 100 Kilometern die Stunde auf den Autobahnen wurde eine unverbindliche Richtgeschwindigkeit von 130 Stundenkilometern eingeführt.

45 Jahre später steht die Geschwindigkeitsbegrenzung wieder auf der politischen – wie gesellschaftlichen – Agenda. Wichtigster Protagonist ist dabei Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer. Ihn treiben Debatten und Diskussionen um Stickoxide (NOx), Dieselmisere, Bahn-Zukunft, Elektromobilität und nun auch wieder das Tempolimit. Doch der CSU-Politiker hält lautstark dagegen: Binnen weniger Tage demontierte er seine Expertenkommission zur Zukunft der Mobilität – „gegen jeden Menschenverstand“ –, geißelte das Tempolimit als „ständige Gängelung“ und adelte die wissenschaftlich zweifelhafte Intervention von Lungenfachärzten als „Versachlichung der Debatte“ um NOx-Grenzwerte. Am Mittwoch dieser Woche hatte er zum dritten Mal die Konzernleitung der Deutschen Bahn in sein Ministerium geladen, um über die Finanzierung, die Struktur, die Zukunftsfähigkeit und das Krisenmanagement bei der Bahn zu reden. Der Aktionsradius und die Streitlust Scheuers scheinen ungebremst. Lösungsvorschläge scheinen hochtourig, vor allem dann, wenn sie der Automobilindustrie nutzen. Scheuer hat seine Basis in Bayern, dort wo BMW und Audi sowie die Zulieferindustrie wichtige Arbeitgeber sind.

Gegenspieler sind einerseits – schon von Amts wegen – Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD). Sie zeigte sich wenig amüsiert und wirft ihrem Kabinettskollegen vor, Fakten zu verdrehen, Emotionen zu schüren und zu verunsichern statt zu versachlichen. Andererseits auch die Opposition im Bundestag. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte vergangene Woche, dass es klar sei, „dass dieser Verkehrsminister in seinem Amt überfordert“ sei. Doch diesen kümmert das wenig. Denn selbst

politische Gegner bescheinigen Scheuer, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Alexander Dobrindt kenntnisreich und leidenschaftlich in seinem Ressort zu arbeiten. Seine emotionale Öffentlichkeitsarbeit zeigt Wirkung: Die Bundesregierung erteilte dem Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen eine Absage. Es gebe intelligentere Vorkehrungen für mehr Klimaschutz im Straßenverkehr, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert.

Doch eine ältere Studie aus Brandenburg zeigt, dass eine Geschwindigkeitsbegrenzung den Verkehr deutlich sicherer machen würde. Schon 2007 hat das Potsdamer Verkehrsministerium die Auswirkungen eines Tempolimits auf einem 62 Kilometer langen Autobahnabschnitts untersuchen lassen. Ein Abschnitt der Bundesautobahn 24 zwischen den Autobahndreiecken Wittstock/Dosse und Havelland war bis Dezember 2002 noch ohne Tempolimit. Danach wurde eine Begrenzung von 130 Stundenkilometern eingeführt. Das Ergebnis: Die Zahl der Unfälle halbierte sich im Untersuchungszeitraum annähernd und auch die Anzahl der Verunglückten sank deutlich. Rechnet man ein, dass die Zahl der Unfälle in Brandenburg im Untersuchungszeitraum ohnehin zurückging, bleibt dennoch, wie es die Forscher ermittelten, eine Verminderung der sogenannten Unfallkostenrate – also der Kosten, die unter anderem durch Schäden und Verletzungen entstehen – um 26,5 Prozent.

Und die Umwelt? Würde auf den deutschen Autobahnen ab morgen ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern gelten, blieben der Atmosphäre über die nächsten fünf Jahre mehr als 20 Millionen Tonnen Kohlendioxid erspart, errechnete etwa der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Zudem fördere eine Geschwindigkeitsbegrenzung eine Abrüstung der PKW-Flotte und damit die Durchsetzung kleinerer und sparsamerer Motoren, ist der BUND überzeugt. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) hält dagegen, dass ein generelles Tempolimit keinen spürbaren Beitrag zum Klimaschutz bringen würde. Der VDA beruft sich dabei auf eine Studie aus dem Umweltbundesamt. Die Behörde schätzt, dass eine Beschränkung lediglich 0,3 Prozent der deutschen Kohlendioxid-Emissionen einsparten.

Letztendlich hat der ADAC im Februar 1974 mehr geschafft, denn er zu hoffen wagte. Er gab der Mobilität und der Geschwindigkeit eine tiefgreifende Emotion und den Mythos einer freien, unbegrenzten Welt, die jeder Mensch erfahren kann. Der Mensch als Autofahrer beherrscht die Maschine und erkundet die Welt – schnell und mit Sitzheizung. Dabei ließ der Automobilclub offen, ob das nicht auch mit der Bahn, mit dem Fahrrad oder dem Elektroroller geschehen kann. Einerseits. Andererseits brachte die Kampagne auch ein stärkeres Umweltbewusstsein hervor, dass der Geschwindigkeit nicht alles unterzuordnen ist.

Martin Theobald
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