Kino

Kommunikationswege

d'Lëtzebuerger Land vom 08.04.2022

In die schweigsame Arbeit, die Ruby (Emilia Jones) auf dem abgenutzten Fischerkahn verrichtet, steigt sie lauthals mit Etta James’ Something’s Got A Hold On Me ein: „Oh, it must be love!“. Jede Geste von Familie Rossi wirkt wie einstudiert: Eine wortlose Arbeitsroutine wird da vollzogen, ein Netz eingeholt, der Fischfang mit fachgerechten Handgesten aussortiert, dann muss noch das Deck abgebraust werden – die Anfangsminuten der Apple-Produktion CODA zeigen ein perfekt funktionierendes Kommunikationsgeflecht einer Familie, noch bevor uns klar wird, dass sie sich eigentlich über Gebärdensprache untereinander verständigen.

Von dem französischen Kassenerfolg La famille Bélier (2014) von Éric Lartigau, auf dem CODA basiert, übernimmt die Regisseurin und Drehbuchautorin Siân Heder das Grundgerüst der Handlung und der Figurenkonstellationen, sowie die sich anbahnenden Konfliktlinien, verlegt den Handlungsort der französischen Landidylle allerdings in die Hafenstadt Gloucester in Massachusetts. Aus den Milchbauern, die auf dem Markt Camembert verkaufen, wird eine Fischerfamilie in deren Zentrum die 17-jährige Ruby steht. Sie ist die Einzige aus ihrer Familie, die mit dem Gehörsinn zur Welt kam und sprechen lernte, während die übrigen Familienmitglieder, der Vater Frank (Troy Kotsur), die Mutter Jackie (Marlee Matlin) und der Bruder Leo (Daniel Durant) taubstumm sind und über Gebärdensprache miteinander kommunizieren. Ruby ist ein CODA, ein „child of deaf adults“. Dadurch übernimmt sie die Übersetzungsarbeit und ist die kommunikative Brücke zwischen der Welt der Hörenden und der Taubstummen. Doch ihr fester Platz innerhalb der Familie und ihre Rolle als Mittlerin mit dem Außen gerät ins Wanken, als ausgerechnet ihr Musiklehrer Bernardo Villalobos (Eugenio Derbez) ihr Gesangstalent erkennt und ihr den Traum der großen Karriere fernab des Fischerdaseins in Aussicht stellt …

Freilich wäre dieser Film nicht der jüngste Eintrag in der Geschichte der Oscars als bester Film, wenn nicht alles auf die große versöhnende Geste hinauslaufen würde. In diesem Wohlfühlkino ist nie ernsthaft an ein Scheitern der Kommunikation oder gar an einen Zerfall der amerikanischen Familie zu glauben. Auch deshalb funktioniert die Übertragung des Originals in die Hafenstadt Massachusetts, aus der die Regisseurin stammt, und die damit verbundene Verhandlung traditioneller US-amerikanischer Werte und Familienbilder ebenso wie des Strebens nach Glück, des Auslebens des amerikanischen Traums nahezu perfekt. CODA bedient die wirksamen Kriterien, die es braucht, um zum Publikumserfolg zu werden. Bei allen Zugeständnissen, die CODA an das Mainstreamkino macht, ist Siân Heders Film unter der Oberfläche aus eingängigen Popsongs und rhythmischen Montagesequenzen ein ruhiger, nachdenklicher Blick auf die Möglichkeiten von Sprache und wie sie Kommunikationswege schaffen kann. Eine Neuerung gegenüber seinem französischen Vorgänger sind da etwa Textnachrichten. In alldem bildet die Hauptdarstellerin Emilia Jones das zentrale Kraftfeld aus, um das sich eine Fülle schillernder Nebenrollen schart, die zu einem Teil der reichen Textur dieses außergewöhnlichen Films werden. Außergewöhnlich, denn anders als im Original werden die Familienangehörigen von echten Gehörlosen verkörpert. Ob diese Besetzung nun auch „echter“ wirkt, ist nur schwer zu beantworten. Der Realitätseindruck des Films ist ohnehin ein behaupteter. Statt sich auf die gegenseitigen Introspektionsschwierig-keiten und Kommunikationsbarrieren zu konzentrieren, nimmt sich CODA Zeit für den Alltag dazwischen, für ausgedehnte, immer wieder auch komische Wortwechsel in Zeichensprache, die subtil davon erzählen, wie gewöhnlich und nahbar beide Welten trotz unterschiedlicher Sprachcodes doch sind. Filmemacherin Siân Heder inszeniert so einfühlsam wie nachdenklich die kleinen Momente, Gesten und damit verbundenen Mimiken, sodass darin eine Vertrautheit spürbar wird, die dem Film seinen Erzählfluss verleiht und jegliche auf Inklusion abzielende Überzeugungsarbeit außen vor lässt. Scheinbare Missionsabwesenheit ist die Mission von Siân Heders Film.

Marc Trappendreher
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