Die Gewinnerliste des diesjährigen LuxFilmFest sorgte bei Pressekolleg/innen für so manches Stirnrunzeln. In ganz groben Zügen zusammengefasst: Kunstkino, wieso nicht. Aber bitte nicht so flagrant Form über Inhalt. Gerade in diesen Zeiten. Auch die Dokumentarjury hat sich für den künstlerisch ambitioniertesten Film entschieden.
Qué será del verano ist ein schwer fassbarer Film. Der junge Regisseur Ignacio Ceroi will seinen Europa-Trip bildlich einfangen und ersteigert im Netz eine Handkamera. Es stellt sich heraus, dass der ehemalige Besitzer der Kamera das von ihm aufgenommene Bildmaterial nicht gelöscht hat. Ceroi ist fasziniert von den Amateurbildern eines Mannes, der mit sehr viel Liebe sein Leben, seine Familie und seine Hunde filmte. Er schreibt ihn an und bittet um die Erlaubnis, sein Material für ein Filmprojekt benutzen zu dürfen.
Ja, Ceroi hat eine Kamera ersteigert. Ja, auf ihr war Videomaterial von Charles zu finden, und ja, es gab einen Briefwechsel. Der in Wirklichkeit mit der Erlaubnis, die Bilder nutzen zu dürfen, endete. Einen großen Teil seines Films hat Regisseur Ceroi von Youtube. Was Qué será del verano bis zum Filmende nicht eingesteht. Und Charles ist nicht Charles, obgleich es so im Abspann steht. Der Film dekonstruiert alles, was einen Dokumentarfilm auszumachen hat.
Aber was bedeutet das schon? Was den Anschein eines künstlerischen Video-Essays hat, ist vielleicht in Wirklichkeit das Produkt eines Regisseurs, der sich im Pandemie-Lockdown Reisen und Begegnungen zusammenfantasiert. Ignacio Ceroi gelingt ein völlig zusammengelogenes und zugleich an Emphatie nicht zu übertreffendes Hybridwerk, welches sein Publikum völlig fassungslos oder ganz entzückt den Saal verlassen lässt.
Ganz unmissverständlich hingegen bildet der Covid-Lockdown 2020 den Hintergrund in Fabrizio Malteses I fiori persi. In diesem Kammerspiel reist Maltese zu Beginn der Pandemie nach Italien zu seinen Eltern. Vater Maltese hat einen Herzinfarkt erlitten. Und wer sich an die Covid-Situation in Italien erinnert, wird sich kaum wundern, dass beide Eltern positiv getestet werden. Die größere Tragödie aber lauert an der Türschwelle der Malteses.
I fiori persi ist ein Film über Trauerarbeit. Ein Film darüber, was es heißt, jemanden zu verlieren, der Teil von einem selbst ist, wie sonst nichts. Das war schon Teil von Fabrizio Malteses California Dreaming, dem Schwanengesang auf eine Stadt und den amerikanischen Traum, inmitten unendlicher wüstenähnlicher Landschaften. Der Schauplatz in I fiori persi ist zwar kleiner, dafür aber unendlich aufgeladener, was persönliche Erinnerungen angeht – nicht nur für Vater Maurizio vor, sondern auch für Regisseur Fabrizio hinter der Kamera. In den stärksten Momenten des Films wird klar, dass die Kamera und die Poesie, die der Regisseur zwischen sich und das Verhandelte stellt, irgendwann nicht mehr den Puffer schenkt, den er sich erhofft.
Für Dreaming Walls bleiben die Regisseurinnen Amélie Van Elmbt und Maya Duverdier in den vier Wänden des Chelsea Hotel. Eines des Wahrzeichen und ein Refugium der New Yorker Kunstszene der 1960er wird renoviert und soll als Luxushotel seine Türen wiederöffnen. Nicht alle haben ihre Wohnungen verlassen. Van Elmbt und Duverdier besuchen diese Menschen – (Überlebens-)KünstlerInnen und Freaks – und versuchen ein Porträt einer sich stetig wandelnden Stadt zu zeichnen.
Größtenteils gehen sie dabei retro-romantischen Reflexen angesichts des Chelsea aus dem Weg. Ironischerweise aber stoßen sie bei den sich ihrer Situation sehr bewussten Einwohnern gegen eine Wand. Der Diskurs um Gentrifizierung und das Durchhaltevermögen in Kunst und Leben als New Yorker erstickt jedes Fünkchen Poesie, das dem inhärent melancholische Hintergrund des Chelsea Hotel anhaftet.
Die britische Regisseurin Andrea Arnold hat mit Cow ihre erste Dokumentararbeit abgeliefert. Sie und ihre Kamera begleiten eine Milchkuh in ihrem tristen Lebenstrott, der darin besteht, tagein, tagaus gemolken zu werden und zwischendurch Kälber zu gebären, um das bestehende System zu erhalten. Fing Wenn Cows filmisches Pendant Gunda von Wiktor Kossakowski – mit Schwein statt Kuh – noch mit elegischer Ruhe und mit Schwarzweiß-Bildern die tierische Existenz von Nutztieren ein, ist Arnold fast schon Gonzo-mäßig am Werk. Ihre Kamera ist so nah an der titelgebenden Kuh dran, dass die schon mal einen Schlag abbekommt. Die Bauern werden zwar nicht zu Feindbildern stilisiert, aber wenn Arnolds Film etwas zeigt, dann ist es die Absurdität des Systems, unter dem die Kühe und Kälber zu leben haben.
Ganz ästhetisiert – wie so oft im zeitgenössischen polnischen Kino, wenn es um die Aufarbeitung des Kommunismus geht – ist 1970 von Tomasz Wolski. Stop-Motion-Puppentrick trifft in dieser Doku auf Archivbilder und Audiodokumente, die einen Arbeiteraufstand in gleich mehreren polnischen Städten im Jahr 1970 thematisieren. Friedliche Demonstrationen als Reaktion auf die allgemeine Preisinflationen wurden vom polnischen Staatsapparat brutal niedergeschlagen. Regisseur Wolski bombadiert seine Zuschauer gleich zu Beginn mit Information zu den Figuren und riskiert zu überfordern. Macht aber sogleich Platz für ein atmosphärisch sehr dichtes audiovisuelles Mosaik, das an mehr als ungemütliche Zeiten erinnert.
Die Chronik, die Jessica Kingdon mit Ascension formuliert, ist nicht nur die von einem aufstrebenden China, sondern von einer globalisierten Welt. Von ausgebeuteten Arbeitern, die für wenige Renminbi Vapor-Pens, Weihnachtsbäume aus Plastik und Sexpuppen zusammenbauen, über die Mittelschicht, die zu höheren sozialen Kreisen aufschließen will, bis hin zu neureichen Chinesen, die schon ganz oben sind und den Westen in allen Hinsichten nachahmen wollen. Kingdon inszeniert ein Land und seine Menschen im permanenten Umbruch, kommentarlos und in ausschweifend musikalischen Sequenzen. Die Mär vom ewigen Wirtschaftswachstum findet in Ascension ein poetisch schöne Fassade, hinter der sich die pechschwarzen Konsequenzen verstecken. Denn wenn China demselben Lebensstandard entgegensteuert, den der Westen für mittlerweile selbstverständlich hällt, dann ist das Ende nicht allzu weit.