Morgen Samstag, am vorletzten Abend des Luxembourg City Film Festival, werden traditionsgemäß eine Menge Preise verteilt. Der „wichtige“ Grand Prix by Orange – dessen Gewinner/in 10 000 Euro in die Hand gedrückt bekommt – wird bekanntlich von einer internationalen Jury vergeben. Diese Jury wählt in der Regel aus acht Filmen aus. Wäre da dieses Jahr nicht die unmissverständlich skandalöse Entscheidung seitens der Politik, den russischen Beitrag Gerda von Natalya Kudryashova komplett aus dem Programm zu nehmen. Zuletzt sprach sich am Mittwoch die Lëtzebuerger Filmakademie gegen diesen sehr schwach argumentierten, kunstfeindlichen Boykott aus.
Unter den verbliebenen Spielfilmen im Rennen ist Reflection des Ukrainers Valentyn Vasyanovich wiederzufinden. Sein vorheriger Film Atlantis versuchte sich an einem dystopisch-utopischen Szenario eines Lebens nach einem militärischen Konflikt mit Russland. Formal knüpft Reflection an seinem Vorgänger an. Mit langanhaltenden und in der Regel fixierten Einstellungen inszeniert Vasyanovich Bosch-ähnliche Gemälde, in denen er die Abgründe der menschlichen Conditio zeigt. Grau auf grau bis bitterschwarz ist das Resultat, das irgendwann Züge eines torture porn annimmt. Reflection geht seinen Plot um einen Arzt, der sich im Krieg vor einem unsäglichen Dilemma befindet, psychologischer an. Das Fünkchen Poesie, das Atlantis noch besaß, erlischt im pechschwarzen Humanismus von Reflection komplett.
Amerikanische Filme sind ebenfalls präsent. Mittel- und südamerikanische Filme. Tatiana Huezos Prayers for the Stolen ist ein Coming-of-Age-Drama im tiefsten und höchsten Mexiko. Drei jugendliche Frauen versuchen zusammen mit ihren Müttern ihr Leben zu meistern, immer mit dem langen Schatten eines Kartells im Nacken, dem auch die Polizei paralysiert gegenübersteht. Ganz frisch vom Sundance Festival kommt The Cow Who Sang A Song Into The Future von Francisca Alegría. Ganz konträr zu der naturalistischen Auseinandersetzung in Huezos Film gibt sich Alegría ganz den magisch-realistischen Sphären hin und erzählt von einer Welt im Umbruch, die sich ihres unklaren Schicksals bewusst wird. Tiere singen Klagelieder, und inmitten dieser Gesänge steigt eine Frau aus dem Wasser und versucht die klaffende, wenn auch unausgesprochene Wunde ihres Verschwindens in der zurückgebliebenen Familie zu heilen. Wo Prayers vielleicht zuviel beantwortet, lässt die singende Kuh von Regisseurin Alegría zu wenig beantwortet und zu viel in Abstraktion.
„Odd woman out“ im Wettbewerb ist Silent Land der Polin Agnieszka Woszczyńska. Seit Maren Ades Alle anderen ist klar, dass es junge attraktive Paare während eines Sardinien-Urlaubs nicht leicht haben werden. Bloß, dass es im polnischen Film eine Leiche im Pool gibt, die die Probleme auslöst. Woszczyńska verhandelt mit ihrem Stoff, der auf dem Papier den Eindruck macht, dass er von Michael Haneke stammen könnte, die Grenzen von Männlichkeitsbildern, einen inhärenten Rassismus und die Passivität der Bourgeoisie, wenn sie mit Krisensituationen konfrontiert wird. Stark im Moment, hinterlässt der Film auf Dauer jedoch weniger starke Eindrücke. Vielleicht, weil die Regie eben nicht die von Haneke ist.
Eine weitere Neuerung des Lux Film Fest ist das Outside the Box-Label, das Filme hervorheben will, die dramaturgisch und formal neue Wege zu gehen versuchen. Sollte ein Filmfestival nicht grundsätzlich outside the box sein? Zwei Wettbewerbsfilme bekamen vorab diesen Stempel aufgedrückt: Atlantide von Yuri Ancarani sowie Jack’s Ride von Susana Nobre. Beide Filme sind auf jeweils ganz eigene Weise höchst ästhetisiert; beide haben dokumentarischen Charakter, verwischen die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm aber sehr deutlich. Der Italiener Ancarani macht das überdeutlich. Seine Geschichte erzählt von sozial abgeschobenen venezianischen Misfits, die ihre Lebenszeit und ihr Schwanz-Messen mit gepimpten Schnellbooten kanalisieren und tagein und nachtaus mit ihrem Leben spielen. Dass Ancarani einen Hintergrund in den darstellenden Künsten hat, verwundert weniger. Seine Bildinszenierung kann man als Gegenentwurf zur Postkarten-Ästhetik von Venedig verstehen. Es ist aber das Ende, welches das Publikum in zwei Lager spalten wird: Ob es Ende sich um hochgradig prätentiöses Getrolle und Kunstkacke handelt, oder um einen poetischen Moment, wie er sonst nicht im Festival-Wettbewerb zu finden ist, muss jeder für sich entscheiden.
Susana Nobre geht ihren Film völlig anders an – bescheidener, gar nicht flashy – aber mit einer ganz konsequenten Identität. Sie erzählt von dem Portugiesen Joaquim, der sich am Ende seiner Berufstätigkeit an seine Zeit als Arbeiter in der Heimat zurückerinnert sowie an seine Emigration in die Staaten. Jack’s Ride fängt nebenbei die sozio-ökonomische Realität des heutigen Portugals ein. Susana Nobre lässt mit ihren sehr grobkörnigen 16-Millimeter-Bildern Chantal Akerman anno News From Home wiederauferstehen, und aus den USA der Siebziger und dem Portugal von heute wird ein einziges Raum-Zeit-Kontinuum. Trotzdem hinterlässt Nobres road movie einen faden Nachgeschmack, als ob dem Ganzen ein wichteges Element fehlen würde.
Apropos road movie. Der iranische Film Hit the Road von Panah Panahi wird mit sehr großer Wahrscheinlichkeit einen Preis erringen und wahrscheinlich auch den Publikumspreis. Panahi lässt dafür sein Publikum zu einer vierköpfigen Famile (inklusive eines süßen, aber kranken Hundes) ins Auto steigen. Schnell wird klar, dass sich alle sehr lieben, einander eber trotzdem mächtig auf den Senkel gehen können. Vor allem der Kleinste (mit Woody Norman aus C’mon C’mon das spektakulärste Jungtalent seit Jahren) ist in seiner Altklugkheit zum Brüllen komisch und einfach nur anstrengend. Vater hat sein Bein in Gips und wirft eine sarkastische Bemerkung nach der anderen in den Raum. Mutter ist grundsätzlich nervös. Vielleicht wegen des dem Zuschauer unbekannten Ziels der Reise. Nur der Älteste scheint die Ruhe wegzuhaben.
Obwohl der Sohn von Jafar Panahi, sind die Bezüge in Panah Panahis Film im Kino von Abbas Kiarostami zu finden, oder in Little Miss Sunshine. Mit einer Leichtigkeit, frei in Form und Inhalt und gleichzeitig mit einer sehr sichen Hand inszeniert, liefert der Regisseur einen Debütfilm ab, der Kritik und Publikum tatsächlich einen könnte, wie schon lange nichts mehr. Panahi legt eine Unmenge falscher Pisten und lässt vieles im Dunkeln, aber die Familiendynamik und die Chemie zwischen allen Beteiligten ist beinah haptisch fassbar. In Hit the Road ist es nicht nur die Familie, die ins Unbekannte reist, sondern auch ein Regisseur, der zu Beginn seiner Reise mit einer Leichtigkeit vom Weg abdriftet, das Steuer aber immer fest in der Hand hält und alle Register gleichzeitig zu ziehen versteht.